Deus é Brasileiro?!

Zuletzt bearbeitet: 29. Oktober 2013

“Gott ist Brasilianer“ – Deus é Brasileiro – das ist einer der Lieblings(an)sprüche jenes selbstbewussten Völkchens unter dem Wendekreis des Steinbocks, dem der Liebe Gott tatsächlich von allem, was eine menschliche Existenz zufrieden und glücklich machen kann, im Überfluss gegeben hat.

Erlebt man die herrliche Natur Brasiliens, unter der fast ganzjährig scheinenden Sonne, als “Gringo“ zum ersten Mal… “ausgestreckt im warmen Sand, ausrollende Brandungswellen umschmeicheln meine Fusszehen, während eine dieser kaffeebraunen Tropenschönheiten mit meinen schon angegrauten Brusthaaren spielt und mich “Amor“ nennt“… dann ist man durchaus bereit, diesen und auch alle anderen selbstgefälligen Sprüche der Brasilianer (und Brasilianerinnen) als unbestreitbare Volksweisheiten anzuerkennen.

Denn, Brasiliens Natur ist tatsächlich eine einzigartige Show an Superlativen: Die längste Meeresküste, die grössten Flüsse, die mächtigsten Wasserfälle, der ausgedehnteste Regenwald, die artenreichste Flora und Fauna – aber, und das sagen die wenigen kritischen Brasilianer selbst, “was für ein Völkchen hat Gott in dieses Paradies gesetzt“?

Christ rédempteur“Brasilianer zu sein“, das scheinen viele Betroffene als eine Art Glücksspiel zu empfinden – ein Spiel, in dem man selbst eine Figur darstellt, die sich von Gott, Jesus Christus, der Jungfrau Maria und einer Unzahl von Schutzheiligen hin- und herschieben lässt – oder auch von den Gottheiten des Candomblé, je nachdem, unter welchem Dach man geboren wurde. Vor jedem neuen Zug in diesem Spiel ruft man dann seine Spielmacher um ihren Schutz an: “Pelo amor de Deus“ (um der Liebe Gottes Willen) – “Nossa Senhora que me ajude“ (Mutter Gottes steh’ mir bei) – und fast alle Brasilianer pflegen ihre zahllosen täglichen Versprechen mit jenem unverbindlichen Zusatz abzugeben: “Se Deus quiser“ (so Gott will) und bereiten damit gleich eine Ausrede fürs Nichteinhalten vor – oder sie bedanken sich für einen erfolgreichen Zug im Spiel ihres Lebens mit “Graças a Deus“ (Gott sei Dank). Neben jenen, die sich von ihrer Religiosität durchs Spiel führen lassen, gibt es andere Zeitgenossen, die ihre eigenen gottlosen Wege einzuschlagen gedenken und Abkürzungen bevorzugen, weil sie meinen, so schneller ans Ziel zu kommen – sie verfallen dem Glücksspiel, steigen ins Drogengeschäft ein, ertränken ihren Frust im Alkohol und verstossen gegen sämtliche Spielregeln, indem sie andere Figuren belügen, betrügen, sie bestehlen und sogar vom Brett stossen.

Das typisch brasilianische “Spiel mit dem Leben“ kann man in ihren Grossstädten täglich beobachten – im chaotischen Verkehr, zum Beispiel, in dem sich weder Autofahrer noch Fussgänger an irgendwelche Spielregeln halten – sogar Mütter mit Kinderwagen und Gehbehinderte überqueren die Strassen bei Rot und scheinen fest davon überzeugt zu sein, dass ihr oberster Spielmacher, der Liebe Gott, sie vor den heranrasenden Bussen beschützen wird – weil er Brasilianer ist? Den Teufel schieben sie dagegen gern den ausländischen Kritikern zu, “die uns nur wegen unserer Freiheit, unserer Spontaneität und unserer Lebensfreude beneiden“ – und deshalb sind wir es, die Ausländer, die ihnen Steine aufs Spielfeld werfen – und das meinen sie wirklich!

Tatsache ist, dass diese einst so bewunderungswürdigen Eigenheiten dieser Menschen im Lauf der Jahre auf der Strecke geblieben sind – dass sich die viel gepriesene “Freiheit der Brasilianer“ inzwischen hinter schmiedeeisernen Gittern vor Türen und Fenstern, und hinter Stacheldraht und durch Alarmanlagen gesicherten, meterhohen Mauern abspielt – in der “Freiheit der Wohnkäfige“ – nicht nur in den Grossstädten, sondern zunehmend leider auch in ländlichen Gebieten. Die “Spontaneität“, von der man einst als typisch brasilianisch in seinem Urlaub beeindruckt war – weil man auf offener Strasse von diesen extrovertierten Zeitgenossen zu einem “Cafezinho“ oder sogar einem “Churrasco“ eingeladen worden war, oder weil man begeistert vom Flirt mit einer glutäugigen Schönheit am Strand zurückkam – diese Spontaneität gibt es nicht mehr, sie hat sich in vorsichtige Zurückhaltung oder deutliches Misstrauen, und besonders auf der Strasse, in eine Art “in die Ferne gerichteten Laufstegblick“ verwandelt, mit dem die einst so spontan zurück lächelnden Mädchen heute jeden Flirtversuch vereiteln – ihr scheinbar wütender Blick geht durch einen hindurch als sei man aus Glas. Und die brasilianische “Lebensfreude“? Auch sie zeigt sich dem Fremden kaum noch – man entdeckt sie höchstens innerhalb einer Gruppe, beim Karneval, im Fussballstadion oder bei einer Show – auf der unsicheren Strasse aber lachen höchstens die Kinder, während sie von ihren Müttern zur Eile angetrieben werden.

Wenn man die Brasilianer vor vierzig Jahren erlebt hat, als sie den ihnen von der Tourismusindustrie angehefteten Verhaltensklischees noch weitgehend entsprachen – und die auch mich damals so vollständig für diesen begnadeten Menschenschlag begeistert haben, dass ich nach Brasilien ausgewandert bin – dann kann man nicht umhin, ihr heutiges Verhalten als die bedauerliche Situation eines unmündigen Volkes zu erklären, das als grösste christliche Gemeinschaft dieser Welt (noch ein Superlativ) seit Jahren in einer kollektiven Lethargie gegenüber einer durch und durch korrupten Staatsmacht dahin dämmert, einer skrupellosen Clique von arroganten Pseudo-Politikern, deren einzige Sorge der Aufstockung ihrer Pfründe gilt, deren Karriere durch eine perfide Strategie allgemeiner Volksverdummung erst möglich wurde, und deren haarsträubende, durch couragierte Journalisten kontinuierlich aufgedeckten Skandale, anscheinend auch im Ausland keine ernst zu nehmenden Wellen verursachen.

Apropós “Strategie der Volksverdummung“ möchte ich mal ein Beispiel anführen, das vor kurzem durch alle Zeitungen in Brasilien ging: Ein Unternehmer aus dem Süden – ich glaube, es war in Santa Catarina – investiert in Fortbildungskurse seiner Angestellten: Sie dürfen studieren, was sie wollen, er bezahlt ihr Studium. Selbst wenn sie zum Beispiel Philosophie belegen wollen, was ihm für sein Unternehmen keinen direkten Nutzen bringt – egal, ihm liegt die Zufriedenheit seiner Angestellten am Herzen. Er selbst wuchs in bettelarmen Verhältnissen auf, gerne hätte er damals jemanden gehabt, ihm ein Studium zu ermöglichen, aber da war niemand – heute, nachdem er trotzdem ein wohlhabender Unternehmer geworden ist, möchte er dieser Sponsor für seine Angestellten sein.

Und nun? Glauben Sie, dass dieser weitsichtige, grosszügige Unternehmer eine Medaille vom Staat bekam? Was er bekam, war eine drakonische Geldstrafe wegen Steuerhinterziehung, von den Behörden damit begründet, dass die Investition in die Fortbildung seiner Angestellten gleichzusetzen sei mit einer indirekten Lohnaufstockung derselben, was sich ebenfalls in einem erhöhten Steuerabgaben-Paket hätte niederschlagen müssen. Dieser Unternehmer wurde bestraft, weil er seinen Angestellten eine Bildung mit Qualität zukommen lassen wollte! Das erinnert mich an eine befreundete Familie, die es nicht mochte, dass ich ihren Angestellten das Schreiben und Lesen ihres Namens beibrachte.

Nichts hat sich in dieser Sch…Elite seit ihrer “demokratischen“ Regierungsbildung geändert – sie versklaven ihr unmündiges Volk immer noch und fühlen sich selbst als höhere Wesen. Sie wollen, dass sich das Volk lediglich in Samba-Schulen bildet, und dass sie sich im Kampf und Kriegsgeschrei ihrer Fussball-Teams verausgaben – und nichts weiter. Denken, infrage stellen, lernen, forschen – das interessiert sie nicht. Und wenn da jemand ist, der das ändern möchte, mit richtiger Erziehung und Bildung, wird er so hoch bestraft, dass eventuelle andere Weltverbesserer abgeschreckt werden… “Man stelle sich vor, ein so gutes, folgsames Volk zu bilden – warum? Und für was? Ein Volk, das sich so wie es ist, wunderbar hin- und herschieben lässt – und uns gegen eine milde Gabe beim nächsten Mal wieder wählt“!

Was Wunder, wenn solche Beispiele von oben bei denen Schule machen, die sich nicht unter jene Millionen einfältiger, von ihren Hirten widerstandslos zur Schlachtbank getriebenen Schafe zählen, sondern “ihre eigenen, gottlosen Wege einschlagen, um ans Ziel zu kommen“? Denn kriminelle Handlungen werden in Brasilien erfahrungsgemäss nur bei solchen Verbrechern mit Gefängnis bestraft, die sich erwischen lassen und noch dazu kein Geld haben – aber selbst ein armer Raubmörder ist in der Regel nach Absitzen eines Drittels seiner Gefängnisstrafe wieder frei. Unter diesen wenig abschreckenden Konditionen hat sich zuerst in den Grossstädten, und inzwischen auch in den Kleinstädten des Inlands, eine nie zuvor erlebte Kriminalitätswelle entwickelt, von der niemand mehr weiss, wie sie aufzuhalten oder einzudämmen wäre. Stattdessen umgeben sich die Bürger mit hohen Mauern und Eisengittern, mit Stacheldraht, Alarmanlagen und, wer es sich leisten kann, mit bewaffneten Wächtern rund um die Uhr. Sogar gepanzerte Limousinen sieht man im Strassenverkehr, und wer eine solche nicht bezahlen kann, der fährt ein Auto mit tiefdunkel getönten Scheiben – um bei Rot, vor der Ampel, einem eventuellen “Blitzüberfall“ zu entgehen.

Basis der allgemeinen Verunsicherung ist das Drogenproblem. Der Deal mit und der Konsum von Marihuana, Kokain, und vor allem Crack, verursachen in Brasilien ein verheerendes Ausmass an Kriminalität und menschlicher Zerstörung – unter den unübersehbaren Massen jener unterprivilegierten Randbevölkerung in den “Favelas“ (Slums) der Grossstädte finden die Drogen-Dealer sicheren Unterschlupf und auch die willigen “Mulas“ (Maultiere) – so nennen sie die halbwüchsigen Kinder, die als Boten zwischen ihnen und ihren Kunden eingesetzt werden. Und weil diese Kinder oft mehr Geld nach Hause bringen als ihre schwer arbeitenden Eltern, bleibt ihr Tun ein Familiengeheimnis. Längst weiss man, dass ihre besten Kunden nicht etwa auf der Strasse sondern in den Hochhauspalästen der besseren Gesellschaft zu suchen sind – unter den Söhnen und Töchtern eben jener Elite von Politikern, Unternehmern und Grosskapitalisten, die in der Stadt oder im Land das Sagen haben und von der Polizei ehrfürchtig mit “Senhor Doutor“ (Herr Doktor) angesprochen werden – sie sind das Gesetz! Bei denen, die in São Paulo, Rio de Janeiro oder Belo Horizonte in dunklen Strassenecken am billigen Crack dahinsiechen, machen zwar hin und wieder ein paar Sozialhelfer privater GNOs einen Ansprechversuch, die Polizei mischt sich jedoch nicht ein, es sei denn, dass diese armen Teufel mal aufeinander losgehen – aber dazu sind sie in der Regel zu schwach.

Soweit eine kurze Skizzierung jenes Hintergrundes, vor dem sich die Verhaltensmuster der Stadtbrasilianer von heute abspielen, und die vielleicht so ohne weiteres von einem Aussenstehenden nicht zu verstehen wären, besonders, wenn dieser angelockt von den üblichen Klischees der Reiseveranstalter nach Brasilien gekommen ist, die sich (verständlicherweise) seit mehr als vierzig Jahren nicht geändert haben.

Brasilien hat inzwischen eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte vorzuweisen, und nicht nur seine Dirigenten, sondern auch ausländische Handelspartner, scheinen zu glauben, dass allein dieser Erfolg zählt. Allerdings ist der brasilianische Agrargigantismus gezeichnet von Umweltkatastrophen grössten Ausmasses. Und immer, schon seit Jahrzehnten, ist es der Regenwald, der durch solche zweifelhaften Erfolge am meisten in Mitleidenschaft gezogen wird: Auch die Brasilianer haben schliesslich zugegeben, dass bereits 17% seiner Gesamtfläche, das sind 700.000 Quadratkilometer, vernichtet worden sind – zum Beispiel, um die Soja-Produktion zu erhöhen oder den brasilianischen Rinderbestand. Allein im letzten Jahr (2010) hat man 6.450 Quadratkilometer Regenwald zerstört – das entspricht etwa der siebenfachen Grösse Berlins! Ich habe mal gelesen, dass ab einem Verlust von 20% des Regenwaldes, dies unwiderrufliche Konsequenzen auf das Klima und den Wasserhaushalt haben wird – nun, dieser traurige Rekord wird bald erreicht werden, besonders, wenn man Brasiliens neues umstrittenes Projekt des brasilianischen Wasserkraftwerks Belo Monte mal aus der Nähe betrachtet: Im Januar diesen Jahres 2011 gab die Regierung grünes Licht für den Beginn der Ausschachtungsarbeiten am Rio Xingu – gegen die Proteste der Umweltschützer, der betroffenen Eingeborenen und der traditionellen Bewohner des Gebiets – insgesamt 20.000 Menschen, müssen umgesiedelt, und weitere 516 Quadratkilometer Regenwald müssen vernichtet werden. Der brasilianische Umweltminister meinte dazu: “Jetzt gibt es kein Zurück mehr“!

Die skrupellos ausgebeutete Natur, deren Aufschrei auch aus den Kehlen einiger tausend Indianer, Umweltschützer und Wissenschaftler unbeachtet verhallt, fängt nun endlich an, sich zu wehren: Im November 2008 erlebt der Bundesstaat Santa Catarina, in Südbrasilien, die grösste Überschwemmungskatastrophe aller Zeiten – 150 Tote, 6.000 Obdachlose. Im Januar 2010 fällt an Rio de Janeiros Sonnenküste soviel Wasser vom Himmel, dass in Angra dos Réis, ein Erdrutsch die Behausungen vieler Bewohner unter sich begräbt – mehr als 50 Tote und Hunderte Verletzter – 30 weitere Erdrutsche infolge der starken Regenfälle werden in dieser Region registriert. Im April 2010 geschieht dasselbe in Niterói, der Nachbarstadt von Rio de Janeiro – 85 Tote, und zusammen mit den zahllosen weiteren Erdrutschen in den umliegenden Munizipien 153 Tote – und mehr als 1.000 Obdachlose.

Zwischen Oktober und Dezember 2010 kommt es in Amazonien zur Trockenheit des Jahrhunderts – 250.000 Menschen in den Bundesstaaten Amazonas und Pará sind davon betroffen – Millionen Tonnen an Fisch verfaulen im Schlamm der ausgetrockneten Flussläufe. 1998 hatte man bereits eine ähnliche Trockenheit erlebt, 2005 eine noch grössere und jetzt 2010 die grösste seit eh und je! Im Januar 2011 verursachen wieder ungewöhnlich starke, anhaltende Regenfälle eine beispiellose Katastrophe in den Munizipien von Petrópolis, Teresópolis und Nova Friburgo (Bundesstaat Rio de Janeiro) – 903 Tote, 405 Vermisste, 35.000 Obdachlose – und eine Woche später zirka 500 Fälle von Leptospirose.

Und wissen Sie, was die Verantwortlichen dieses schönen Landes zu all dem gesagt haben? Sie schieben den Schwarzen Peter auf “El Niño“, auf die globale Erwärmung und die damit weltweit ausgelösten Katastrophen. Man hört in Brasilien immer noch nicht auf den Protestschrei der gepeinigten Natur und der wenigen “Durchblicker“, die meist im Ausland studiert haben, um nun zurück in ihrer Heimat, etwas bewegen und verändern zu können.

Brasiliens wirtschaftliche Erfolge werden voraussichtlich auch in den nächsten Jahren anhalten, denn die Bevölkerung unseres Planeten wächst weiter und braucht die Agrarprodukte und anderen Rohstoffe aus Brasilien mehr denn je. Die Kehrseite dieser Medaille zeichnet sich allerdings längst ab: Die gigantischen Monokulturen hinterlassen einen ausgelaugten Boden, dessen Produktivität trotz vermehrtem Einsatz von Chemikalien weiter zurückgeht. Die angestrebte Produktionssteigerung ist also nur durch weitere Regenwaldvernichtung zu kompensieren.

Die Basis einer florierenden Volkswirtschaft sind aber nicht nur wertvolle Rohstoffe, man braucht auch gut ausgebildetes und einsatzfreudiges Fachpersonal mit dem technischen Knowhow zu ihrer Verarbeitung – deshalb gibt es in Brasilien zur Zeit (2011) 6,7 Millionen Arbeitslose, von denen 73% zwar in guter körperlicher Verfassung wären, aber keinerlei Qualifikation besitzen, die ausgeschriebenen Stellen besetzen zu können. Die gegenwärtige Weltwirtschaft verlangt hinsichtlich des Arbeitsmarktes nach Veränderungen in der Gesellschaft, und es ist eine Tatsache, dass die brasilianische Gesellschaft mit dem schnellen Rhythmus dieser Veränderungen nicht Schritt halten kann. Zunehmend investieren Unternehmen in Kapazitäten, die man ehemals als unbedeutend abgetan hat – heute ist zum Beispiel Kreativität das Differenzial, eine Voraussetzung des modernen Facharbeiters. Vor diesem Hintergrund muss Brasilien sein Bildungssystem grundsätzlich und signifikant verbessern, um seine neuen Generationen auf die professionelle Vielseitigkeit der Welt von heute vorzubereiten. Inzwischen gehen brasilianische Unternehmen dazu über, nach Personen mit Talent und Kreativität zu suchen, die man trainieren und den Erfordernissen eines Marktes in konstanter Veränderung anpassen könnte – beschämende Auswirkungen eines Landes mit prekärem Ausbildungssystem, dessen Politik sich einzig und allein an der Gegenwart orientiert, ohne sich um eine historische Sequenz der nächsten Generationen zu kümmern.

Apropós Ausbildung: Das gesamte brasilianische Schulsystem wurde erst kürzlich nach einer Untersuchung der UNO hinsichtlich Niveau und Effektivität auf den 32. Platz unter den Ländern der Erde zurück gesetzt – noch hinter verschiedene afrikanische Länder! Man hat nämlich festgestellt, dass viele halberwachsene Schüler zwar normal lesen können, dass sie aber das, was sie lesen, selbst nicht verstehen! Natürlich sind die Eltern landesweit entsetzt über solche Enthüllungen, die von sämtlichen Medien ausgeschlachtet wurden, aber nur vom Gerede über Erziehung, wie das die Politiker bei ihren Wahlkampagnen so gerne tun, wird eben nichts besser. Immer noch sind fast 20% der brasilianischen Gesamtbevölkerung Analphabeten, und wozu soll man nun jene Schüler zählen, die wie Automaten lesen, aber das Gelesene nicht kapieren? Zu allem Überfluss hat die Regierung inzwischen ein Gesetz erlassen, nach dem “kein Schüler mehr sitzen bleiben darf“ – niemand muss also in Brasilien ein Schuljahr wegen zu schlechter Leistungen wiederholen.

Brasilien verfügt zweifellos über eine Menge sportlicher Talente (und nicht nur im Fussball), denen man gerne zuschaut, wenn sie ihre überraschenden Balltricks präsentieren, von denen man aber leider auch immer wieder enttäuscht wird, wenn sie einem Gegner gegenüber stehen, der sich von ihren Ballkünsten nicht ins Bockshorn jagen lässt, sondern sie mit seinem eisernen Willen zu siegen aus der Fassung bringt. Typisches Beispiel aus der WM 2010: Die Brasilianer zeigen wieder einmal einen tollen Fussball und führen im Viertelfinale mit 1:0 gegen Holland – dann, mit einer undisziplinierten und selbstgefälligen 2. Halbzeit geben sie das Spiel plötzlich aus der Hand – und verlieren 1:2 gegen einen disziplinierten Gegner mit Siegeswillen.

Und war es nicht ganz ähnlich vor ein paar Tagen bei der Frauen-WM 2011? Nach 120 Minuten führten die Brasilianerinnen um ihren Star Marta im Viertelfinale gegen die USA mit 2:1 – bis ihr Team nach unnötigen Verzögerungen und unschönem Gekicke das Gegentor kassierte – buchstäblich in der letzten Minute. Und wieder siegten Disziplin und Siegeswille des Gegners über die mental schwachen brasilianischen Ballkünstlerinnen (mit 5:3) im Penaltyschiessen.

Das aktuellste Beispiel im Viertelfinale gegen Paraguay in der Copa America vom 17. Juli 2011: Mit mehr als einer peinlichen Lachnummer mussten sich die brasilianischen Ballkünstler verabschieden, nachdem sie gegen eine schwache Elf aus Paraguay eine Riesenchance nach der anderen in 120 Minuten vergaben und dann im Elfmeterschiessen keinen einzigen Ball versenken konnten – dreimal trafen die favorisierten und hochbezahlten Stars nicht einmal das Tor! Auch hier siegten letztlich Disziplin und Siegeswille vor Arroganz und Lässigkeit.

Für die “Copa 2014“ im eigenen Land sieht man den fünffachen Weltmeister Brasilien natürlich auch als Favoriten an. Das ist erhebend für die Nation, kann sich aber für ihre “Seleção“ als ein Schuss ins Knie auswirken, weil die Balljongleure erfahrungsgemäss unter Druck keine Leistung bringen. Angesichts des hohen technischen Niveaus beim modernen Fussball werden die brasilianischen Favoriten aber nur durch konstante Leistung – und nicht in Einzeleskapaden sondern im Kollektiv und einem ebenso kollektiven Siegeswillen – ihren schon so lange ersehnten “Hexa“ (Sechsfachen) erreichen können. Daran werden auch Anfeuerungstaumel, Stossgebete und die mit einem Macumba-Bannfluch gegen den Gegner belegten toten Hühnchen nichts ändern, die das gelb-grün bemalte Publikum dort in die Arena zu werfen pflegt, wenn es nicht so läuft wie erwartet.

Und noch etwas zu den brasilianischen Vorbereitungen für die kommende WM 2014: Bei den Bauvergaben für die geplanten Stadien des Mega-Events, aus dem man in Brasilien eine “unvergleichliche Show“ machen will, haben sich die entsprechenden Baufirmen, eines cleveren Tricks bedient, der in Brasilien nicht neu ist: Um den Auftrag zu bekommen, wurden so nebensächliche Komponenten wie Stuhlreihen, Flutlicht-Einrichtungen oder der Rasen des Spielfelds bei ihrem Angebot erst einmal weg gelassen, um die Preise niedrig zu halten – jetzt, wo die Verantwortlichen unter Zeitdruck stehen, steigen die Kosten rapide an und liegen bereits bei plus 350% gegenüber der Anfangskalkulation – selbstverständlich ist darin auch ein schöner Prozentsatz Schmiergeld enthalten, wie immer bei grossen Bauvorhaben in diesem Land.

Pelé, Brasiliens ewiges Fussball-Idol, steht den Vorbereitungen seiner Landsleute auf die WM 2014 mit gemischten Gefühlen gegenüber. Und bei seinen zahlreichen Interviews kann er nicht umhin, deren Organisations-Chaos zu kritisieren. “Brasilien läuft grosse Gefahr, uns zu blamieren“, so drückt er sich aus, und meint damit sich selbst und seine Kollegen, die rund um die Welt auf Stimmenfang für eine WM 2014 und die Olympiade 2016 in Brasilien gegangen sind. Die Langsamkeit der Bauarbeiten mache ihm Sorgen, und die Situation der Flughäfen sei “alarmierend“, ergänzt der 70-jährige Ex-Crack.

Nun, stellen wir mal lieber keine Prognosen, sondern warten wir es ab. Irgendwie werden die Brasilianer die WM schon schaukeln, und sei es mit ihrem typischen “Jeitinho“, das ihnen schon oft aus der Klemme geholfen hat – man kann es nicht erklären, aber es funktioniert.

Aber ist Gott nun Brasilianer, oder nicht?

Nachdem ich länger als vierzig Jahre in diesem schönen Land gelebt und als Pressefotograf und Touristiker gearbeitet habe – während der Militärdiktatur in einem Gefängnis in São Paulo gefoltert wurde, weil ich bei einer verbotenen Demonstration fotografierte – man mir im Lauf der Jahre ein neues Auto, ein gut gehendes Restaurant und ein Ausflugsboot gestohlen hat – ich unzählige Male mit einer Waffe bedroht und beraubt wurde – in Rio mit ansehen musste, wie ein Drogen-Dealer einen Konkurrenten vor meinen Augen erschoss, um ihm anschliessend das Gesicht zu zertreten, damit die Polizei ihn nicht identifizieren konnte – meine deutsche Lebenspartnerin verlor, weil sie “nur weg“ wollte “von diesem schrecklichen Land“, und ich bleiben – nachdem ich von der Grossstadt (Rio) weg ins Inland (Belo Horizonte) umgezogen war und dort erlebte, dass meine Wohnung innerhalb von zwei Jahren dreimal am helllichten Tag von Einbrechern geleert wurde, die sogar meinen Kleiderschrank plünderten – da beschloss ich spontan, in meine deutsche Heimat zurückzukehren.

Um also diese Frage zu beantworten: Für mich sieht es inzwischen eher danach aus, als ob sich Gottes ewiger Gegenspieler in diesem Land meiner einstigen Träume breit gemacht hat.

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AutorIn: Klaus D. Günther · Bildquelle: Fotolia.de

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