Der Massen-Selbstmord der Reichen

Zuletzt bearbeitet: 29. Oktober 2013

Ich bin 54 Jahre alt. Ich bin in São Paulo geboren, aufgewachsen habe immer hier gelebt. Ich bin Zeuge der langsamen, schmerzvollen und voranschreitenden Verschlechterung der Stadt im Laufe dieser Jahrzehnte gewesen. Deshalb muss ich gebrochenen Herzens feststellen, dass die paulistanische Hauptstadt an eine Grenz-Situation gekommen ist.

Die nicht mehr zu atmende Luft, der chaotische Verkehr, der unzureichende öffentliche Transport, die exorbitanten Preise, die schlechte Qualität der öffentlichen Dienstleistungen, nichts davon bildet das eigentliche Hindernis zu einem minimal akzeptablen Leben für den Grossteil der Paulistaner. Unser Problem ist die Gewalt.

Die Autoritäten von São Paulo produzieren Zahlen, die attestieren sollen, dass das Sicherheitsproblem dieser Mega-Metropole eines der Kleinsten von Brasilien sei, aber das ist eine Lüge.

Es gibt eine unermessliche Anzahl von Beweisen, dass die Zahlen der Behörde für öffentliche Sicherheit in São Paulo kaschiert sind und jedweder “Paulistano” wird das gleiche sagen, wenn er nicht von politischer Meinung beeinflusst wird.

angstGegen 18 Uhr am letzten Montag, zum Beispiel, wurde meine im 5. Monat schwangere Tochter Carla (31) mit Gewalt in der Av. Rodrigues Alves , Ecke Rua Humberto I, überfallen, im Stadtviertel Vila Mariana in der Zona Sul (Südliche Stadt-Zone), einer Gegend, die als eine der besten der Stadt gilt. Vor allem, was die Polizei-Überwachung angeht.

Carla ging zerstreut eine Strasse mit grossem Verkehrsaufkommen entlang, voller Fussgänger und Läden, als sie von einem Motorrad mit 2 weissen Individuen, beide anscheinend über 30 Jahre alt, abgefangen wurde. Das Motorrad hielt an ihrer Seite, sie blieb zwischen dem Fahrzeug und einer Mauer.

Der Beifahrer schob meine Tochter -mit Gewalt – gegen die Wand, ohne selbst vom Motorrad zu steigen, nahm ihr das Handy ab, das sie in der Hand hielt und befahl, dass sie die kleine Tasche öffnen solle, die sie an einem Schultergurt trug und in der sich nichts weiter als zehn Reais, ihr Personalausweis und die Krankenkassen-Karte befanden.

Das Mädchen dachte noch, es würde ihr helfen, die Räuber auf das Offensichtliche, ihre Schwangerschaft hinzuweisen. Und sie bat sie, Ruhe zu bewahren.

Was sie vor Schlimmerem als dem Verlust des Handys oder der zehn Reais bewahrt hat, war die Eile der Banditen, den Raub zu beenden. Und ebenfalls, dass sich meine mutige Tochter absolut kooperativ und ruhig verhalten hat, wenigstens nach aussen hin.

Was am meisten erschreckt, ist, dass die Tatsache von Personen in vorbeifahrenden Fahrzeugen, von Fussgängern und von Geschäftsleuten gesehen wurde und niemand etwas tat. Nicht einmal, nachdem die Diebe weggefahren waren, hat sich jemand genähert und der jungen schwangeren Frau irgendeine Art von Hilfe angeboten, die gerade Opfer einer Gewalttat wurde(!?).

Einige Tage vorher wurde, genau vor dem Haus in dem meine Tochter wohnt, im Stadtviertel Aclimação, eine Nachbarin auf ähnliche Weise überfallen. Mein Sohn und mein Schwiegersohn wurden ebenfalls im Stadtviertel Paraíso überfallen. Es vergeht fast keine Woche, in der ich nicht von irgendeinem Fall von Gewalt gegenüber einem Bekannten erfahre.

Und das Problem wird von Jahr zu Jahr schlimmer.

Natürlich passiert dasselbe an anderen Orten in São Paulo und im übrigen Land. Vor allem in den grossen Ballungsräumen. “Man kann die Sonne nicht mit einem Sieb verdecken”, soll heissen: Brasilien steht sozial gesehen in Flammen.

Was augenscheinlich seltsam ist, ist, dass das Land sich sozial verbessert hat. Die Armut ist viel weniger geworden, das Elend ebenso. Aber der soziale Abgrund Brasiliens (die Schere zwischen Arm und Reich, Anm. der Übersetzerin), so sehr er sich auch im letzten Jahrzehnt verringert hat, bleibt immer noch riesengross. Es waren Jahrhunderte der Vertiefung der Ungleichheit und der Preis dafür wird jetzt langsam von der gesamten Gesellschaft bezahlt werden.

Niemand wird sagen, dass Menschen, die auf den Strassen irgendwelche Dinge stehlen, die sie kriegen können – wie, z.B. ein billiges Handy und 10 Reais- und sich noch obendrein Gewalt bedienen- was das Risiko mit sich bringt, das Leben desjenigen zu zerstören, der solche Taten begeht – nicht aus Armut hervorgehen.

Kann Polizeigewalt dieses Problem lösen? Ist die Situation an diesem Punkt angekommen, weil die Polizei nicht genügend Banditen abschlachtet? Dummes Gerede. Wir haben einen der gewalttätigsten Polizeiapparate der Welt, der sich nicht damit begnügt, Banditen zu foltern und umzubringen, sondern auch Unschuldige.

Die Frage ist: hat es etwas gebracht? Sänke die Kriminalität, wenn die Polizei noch gewalttätiger wäre? Du, der Du dies verteidigst, Du träumst. Von der Polizeigewalt abgesehen, sind unsere Gefängnisse mittelalterliche Kerker. Der Handydieb wird in sie eingeliefert und kommt als Mörder heraus. Oft werden einfache Leute in den Gefängnissen wahnsinnig durch Missbrauch und verschiedenartige Misshandlungen.

Unzählige Studien haben schon gezeigt, dass die Urheber von Straftaten fast immer Personen mit geringster Schulbildung und von armem oder sehr armem Ursprung sind. Die Verbindung zwischen Unwissenheit und Armut bringt einen sehr ausdrücklichen Prozentsatz an der armen Mehrheit der Brasilianer hervor, die sich schliesslich zu Verbrechen bereitfinden.

Obwohl die unüberwindliche Ungleichheit Brasiliens die erklärbarste Ursache für den Aussbruch an Gewalt ist, den wir gerade erleben, wird die Mehrheit der politischen Massnahmen für die Umverteilung der Löhne – wie das Programm “Bolsa Família”(Familiengeld) oder die Angleichungen des Minimallohnes oberhalb der Inflation- immer noch wildentschlossen von konservativen politischen Parteien und den einflussreichsten Medien bekämpft .

Diese Teile der Gesellschaft, die über Jahrhunderte die Überzeugung gefestigt haben, dass es möglich sei, dass sich eine unzählbare Menge von Menschen damit abfände, in Armut zu leben, während sich eine winzige Minderheit mit dem Konsum und Luxus verwöhnt, der Königen würdig wäre, geben sich nicht für geschlagen.

Die Reaktionäre der reichen Klassen sind sich jedoch nicht bewusst, dass die Gewalt, von der sie glauben, sie in die armen Stadtviertel und Gemeinden verbannen zu können, wo Arme Arme für ein bisschen Geld umbringen, (sich nicht so einfach eingrenzen lässt, Anm. der Übersetzerin). Darin irren sie sich! Die wachsende Gewalt wird sie immer mehr erreichen.

Die Reichen, die sich weigern, umverteilende politische Massnahmen zu akzeptieren, begehen Selbstmord. Ihr Egoismus und ihre Dummheit wird ihnen noch ihre lieben Verwandten oder sie selber umbringen. Nur die sehr, sehr reichen, die über Hubschrauber und private Sicherheitskräfte verfügen können, können sich in Sicherheit bringen, eingesperrt in ihren goldenen Käfigen.

Das Schlimmste am unbewussten Suizid des Reichen ist allerdings, dass er, in seinem Egoismus und seiner Dummheit, nicht nur sich selbst in Gefahr bringt, sondern alle. Einschliesslich derjenigen, die schon verstanden haben, dass die Ungleichheit, wenn sie nicht mit mehr Entschiedenheit bekämpft wird, dieses Land auf einmal in Brand setzen wird. Früher oder später.

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AutorIn: Ursula Barros Penharvel · Bildquelle: Fotolia.de

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