Der kleine Fernando

Zuletzt bearbeitet: 29. Oktober 2013

Der kleine Fernando musste sterben, weil zu viele Umstände sich gegen ihn verschworen hatten. Welches Fazit zieht man aus der Geschichte eines Jungen, der in São Paulo in einen Gulli fiel und vom Abwasserstrom mitgerissen wurde.

Fernando, vier Jahre alt, spielte und sprang wie immer auf dem Trottoir einer verkehrsreichen Avenida in São Paulo herum – als er am Nachmittag des 18. September, einem Sonntag, plötzlich in ein Loch fiel. Oder besser gesagt: nicht in ein Loch, sondern eher in einen Gulli. Aber ein Gulli war es eigentlich auch nicht, vielmehr eine Art Einstieg in die städtische Abwasserunterwelt.

Die Mutter, die an seiner Seite ging als es passierte, sah, wie ihr Kind plötzlich von der Bildfläche verschwand – das Trottoir hatte den kleinen Fernando verschluckt, und die unterirdische Schattenwelt der Abwasserkanäle der Stadt hatte ihn aufgesaugt. Noch am letzten Donnerstag durchforschten die städtischen Feuerwehrmänner jenes stinkende Armageddon der Monsterstadt in einer Art stoischer Pflichterfüllung – eine Hoffnung, den kleinen Jungen noch lebend zu bergen, hatten sie nicht mehr – vielleicht nicht einmal die, je seine Leiche zu finden.

golf und schubkarrenDer Ausrutscher, welcher den kleinen Fernando in das Loch beförderte, war lediglich das letzte Glied einer Kette von Nachlässigkeiten und misslichen Umständen, die seinem Leben ein Ende setzten. Diese Verkettung von Umständen einmal aufzurollen – Glied um Glied – heisst Teile zusammenzufügen, welche eine typische Geschichte des Landes ergeben, in dem wir heute leben. Das erste Glied der Kette ist die Misere, in der Fernando aufwuchs. Er wohnte, mit seinen Eltern, im so genannten “Jardim Damasceno“ (Garten von Damaskus) – in einer verzweifelt armen Region des Stadtteils “Brasilândia“. Es ist ein trauriger, und zynischer, Witz der Immobilienspekulanten, solche menschenunwürdigen Gegenden vorzugsweise mit der Bezeichnung “Garten“ zu belegen – in ihnen gibt es keine Gärten – nicht einen! Es gibt dort auch keine Plätze! Der Unfall ereignete sich in einer anderen Gegend, weit weg von zuhause – auf der Avenida Inajar de Sousa, im Stadtteil Freguesia do Ó, wo der kleine Fernando zu einem Kindergeburtstag eingeladen war. Dort in Freguesia do Ó ist es besser, viel besser, als im Jardim Damasceno. Aber schlechter, sehr viel schlechter, als in Vila Nova Conceição oder in Higienópolis, den Stadtteilen der Reichen, in denen auch die öffentlichen Einrichtungen der Stadt weniger beschädigt werden.

Das zweite Glied der Kette ist, dass Fernando in einer Stadt geboren und aufgewachsen ist, welche sich schon seit historischen Zeiten darauf spezialisiert hat, gerade dort ihre Avenidas anzulegen, wo vorher unter offenem Himmel Bäche und Flüsse die Landschaft durchquerten. Der Zementpanzer der überirdischen Avenidas kerkert die Flussläufe ein, verdammt sie unter die Erde. Auch die Avenida Inajar de Sousa ist so ein Fall. Und unter zahlreichen anderen unerwünschten Folgen dieser Einkerkerung, provoziert sie regelmässige Überschwemmungen, denn die natürlichen Entsorgungskanäle hat man unter der Asphaltdecke erstickt. Die Inajar de Sousa erhebt sich über einem wichtigen Bachlauf, dem “Cabuçu“, einem Zufluss des Rio Tieté. Und das Loch, welches ich am Anfang der Geschichte “Gulli“ nannte und mich dann auf “eine Art Einstieg“ verlegte, ist weder das eine noch das andere. Die technische Bezeichnung dafür ist “Posto de visita“ (Besuchs-Posten). Es ist ein Loch, das ist eine Tatsache, durch das Arbeiter und Ingenieure ein- und aussteigen, wenn sie die unterirdische Kanalisation inspizieren. Und das heisst, dass der kleine Fernando das Pech hatte, in ein ziemlich grosses Loch zu fallen, viel grösser als sein kleiner Körper, um dann in einen reissenden Wasserstrom einzutauchen, in dem er zweifelsohne ertrunken ist.

Das nächste Glied der Unglückskette ist, dass der arme Junge in einem Land von Dieben geboren wurde, einige von ihnen Räuber grossen Stils, wie diejenigen, welche die politischen und unternehmerischen Skandale produzieren, und andere kleinere, manche geradezu lächerliche, verzweifelte Söhne der Misere – aber eben alles Diebesgesindel. Fernando fiel in das Loch, weil es keinen Deckel hatte. Und warum hatte es keinen, weil jemand den Deckel gestohlen hatte! Es ist erschreckend, was hierzulande alles an öffentlichen Einrichtungen und Ausrüstungen gestohlen wird – Kabel, Metallgeländer, Beleuchtungseinrichtungen, Verkehrsschilder – das Brasilien der Diebe und Banditen. Die “Telefonica“, Telefongesellschaft in São Paulo, beklagt 1.700 Kilometer gestohlene Kabel im ersten Halbjahr diesen Jahres, innerhalb des Bundesstaates. Die CET, zuständig für den Verkehr in der Millionenstadt, muss pro Tag zehn Verkehrsschilder ersetzen, die geklaut werden oder von Vandalen zerstört – und es gelingt nicht immer, alles zu ersetzen, was nötig wäre. Im Fall jenes Loches, in das der kleine Fernando gefallen ist, müsste es eigentlich mit einem Eisendeckel verschlossen sein. Es gibt an die 57.000 solcher Deckel in der Stadt. Zirka 500 werden monatlich ersetzt. Eine grosse Zahl geklauter Deckel werden nicht ersetzt – ihre genaue Zahl ist unbekannt und wahrscheinlich steigend. Der Deckelklau ergibt sich aus der glücklichen Verbindung von Misere und organisierter Kriminalität. Die Misere stellt die Knochenarbeit und Risikobereitschaft, derer sich ein Netz von organisierten Hehlern und Schrottverwerter bedient. Ein Deckel, wie der an der Avenida Inajar de Sousa fehlende, kostet die Präfektur von São Paulo 150.00 Reais (zirka 50.00 Euro). Der Dieb verkauft ihn für höchstens 10% dieser Summe an den Schrotthändler.

Das letzte Glied betrifft die Unfähigkeit der Staatsmacht in Brasilien. Die Polizei müsste den Diebstahl verfolgen, aber . . . nun, man weiss ja, was mit denen los ist. Die Präfekturen, die Staatsregierungen, die Landesregierung – sie alle müssten sofort entsprechende geklaute Ausrüstungen ersetzen, aber sie tun es nicht. Selbst wenn es die Korruption nicht gäbe, keine Inkompetenz oder Nachlässigkeit, was aber leider die Probleme zusätzlich verschärft, würde es dem Staat dennoch nicht gelingen, mit der Klauerei Schritt zu halten. Dies sind Probleme, die ihn überfordern. Dem Loch, in das der Junge gefallen ist, so berichten die Anwohner der Gegend, fehlte schon seit langem der Deckel. Sie hatten es mit zwei dicken Steinen abgedeckt – trotzdem war die eine Hälfte offen geblieben.

Zu viele unglückliche Umstände, die gegen das junge Leben des kleinen Fernando konspirierten. Fröhlich einher springend, auf dem Rückweg vom Kinderfest, trat sein kleiner Fuss plötzlich ins Leere – nicht mal einen Schrei hat seine Mutter gehört. Der Stadtsekretär Walter Feldman hat die Familie besucht und ihr sein Beileid ausgedrückt. Er fand die Mutter noch unter Schock, aber immerhin in der Lage, mit ihm ein paar Worte zu wechseln. Der Vater dagegen sagte nichts. Er blieb während der ganzen Zeit auf seinem Bett liegen und hatte sich ein Handtuch übers Gesicht gelegt.

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AutorIn: Klaus D. Günther · Bildquelle: AgenciaBrasil

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