Bolsa Família und die feministische Revolution im Sertão

Zuletzt bearbeitet: 29. Oktober 2013

ABr200513_TNG5039Die Anthropologin Walquíria Domingues Leão Rego hat bestätigt, dass in den letzten fünf Jahren ein Wandel im Verhalten in den ärmsten und vielleicht am meisten vom “Machismo” betroffenen Regionen Brasiliens stattfindet. Das Familiengeld brachte den Frauen des Sertão die Macht, zu Entscheiden. Sie entscheiden jetzt selber – von der Einkaufliste im Supermarkt bis zur Ehescheidung.

Eine Revolution ist im Gange. Stillschweigend und langsam beginnt der Feminismus – 52 Jahre nach der Erfindung der Antibabypille – Form anzunehmen in den ärmsten und möglicherweise auch machistischsten Ecken Brasiliens. Das Landesinnere von Piauí, die Küste von Alagoas, das “Vale do Jequitinonha”, in Minas Gerais, das Landesinnere von Maranhão und die Peripherie von São Luís (Bundesstaat Maranhão) sind das Szenario dieser Bewegung. Wer sie beschreibt, ist die Anthropologin Walquiria Domingues Leão Rêgo von der staatlichen Universität Campinas (Unicamp). In den letzten fünf Jahren hat Walquiria Jahr für Jahr die Veränderungen im Leben von über hundert Frauen begleitet, alle Empfängerinnen der BOLSA FAMILIA (Familiengeld).

Sie war in den abgelegensten Gegenden, nur auf ihre eigenen Mittel angewiesen, um eine seltene Übung zu tun: um aus dem Mund dieser Frauen zu hören, wie sich ihr Leben nach der Schaffung dieses Programms verändert hat (oder nicht). Wir nehmen einen Teil der Schlüsse von Walquiria vorweg. Die vollständige Studie wird in einem Buch veröffentlicht, dass noch in diesem Jahr herauskommen soll.

Frauen ohne Recht

Die Gegenden, die von Walquiria besucht wurden, sind solche, wo manchmal die Familien nicht den ganzen Monat lang in Lohnverhältnissen stehen. Sie müssen vom Tauschhandel leben. Der Arbeitsmarkt ist schon zu dürftig für die Männer. Was soll man dann an Arbeitsplätzen für Frauen erwarten? Es gibt wenig Zugang zu (Aus-) Bildung und Gesundheitswesen.

Gewöhnlich gibt es viele Kinder. Die Struktur ist patriarchal und religiös. Die Frau ist immer unter dem Joch des Vaters, des Ehemannes oder des Pfarrers/Pastors. “Viele dieser Frauen haben die demütigende Erfahrung gemacht, gezwungen zu sein, sich ihr Essen buchstäblich selbst zu suchen”, bestätigt Walquiria. “Es sind Menschen, die hin und hergeschubst werden, ohne Recht auf eigene Rechte”. Walquiria wollte wissen, ob sich für diese Personen das Familiengeld in eine Art Wohlfahrt verwandelt hat oder ob es irgendein Gefühl von Staatsbürgerschaft wiederbeleben konnte.

Lippenstift und Danone

“Man hat mehr Freiheit mit dem Geld”, fasst Edineide zusammen, eine der von Walquiria interviewten Frauen, die in Pasmadinho im Jequitinonha-Tal wohnt (eine weithin für ihre Armut bekannte Region, Anm.d.Ü.). Die Frauen sind über 90 % der Empfängerinnen vom Familiengeld: sie sind es, die das Geld Monat für Monat am Bankautomaten abheben. Edineide erklärt die Bedeutung dieser Entscheidung der Regierung, die Bankkarte für diese Zuwendung auf den Namen der Frauen auszustellen und ihnen zu übergeben: ”Wenn der Ehemann einkaufen geht, kauft er das ein, was er will.

Und wenn ich gehe, kaufe ich, was ich will.” Sie können jetzt Danone für die Kinder kaufen. Und haben ein Recht auf Eitelkeit. Walquiria hat mit Frauen gesprochen, die zum ersten Mal im Leben einen Lippenstift für sich gekauft haben. Endlich hatten sie die Macht, auszuwählen. Und das verändert viele Dinge.

Führt das Geld zur Ehescheidung und zur Reduzierung der Kinderzahl?

Ein guter Teil von ihnen hat zum ersten Mal ein festes Einkommen. Und mehrere hatten schliesslich mehr Geld als ihre Männer”, sagt Walquiria. Noch mehr, als zwischen dem Kauf von Nudeln oder Reis auszuwählen, hat das Familiengeld ihnen gestattet zu entscheiden, ob sie mit ihrem Mann zusammenbleiben wollen oder nicht. In diesen Regionen ist es noch selten, dass eine Frau die Initiative zur Scheidung ergreift. Aber das beginnt schon vorzukommen, wie Walquiria berichtet:

”Im ersten Interview, dass ich im April 2006 mit Quitéria Ferreira da Silva (34 Jahre, verheiratet und Mutter von 3 Kleinkindern in Inhapi) machte, fragte ich sie nach Misshandlung. Sie weinte und sagte mir, dass sie nicht darüber sprechen wolle. Im folgenden Jahr, als ich wiederkehrte, fand ich sie vom Ehemann geschieden vor. Sie machte einen sehr viel ruhigeren Eindruck.”

Was die Belästigung von Seiten der Ehemänner angeht, hat keine der Frauen, die von Walquiria angehört wurden zugegeben, den Aufforderungen der Männer nachzugeben und ihnen das Familiengeld auszuhändigen. “Dieses Geld gehört mir, Lula (Luíz Inácio LULA da Silva, der bras. Ex-Präsident, Anm.d.Ü.) hat es mir gegeben, damit ich für meine Kinder und Enkel sorgen kann. Warum sollte ich es jetzt meinem Mann geben? Nein, das tue ich nicht!”, sagte Maria das Mercês Pinheiro Dias (60 Jahre), Mutter von sechs Kindern, Bewohnerin von São Luís (Bundesstaat Maranhão) im Interview 2009.

Walquíria berichtet ausserdem, dass die Anzahl der Frauen angestiegen ist, die nach Empfängnisverhütungsmitteln fragen. Sie fühlten sich nach und nach freier, Entscheidungen über ihren eigenen Körper und über ihr Leben zu treffen. Natürlich sind die Veränderungen noch ganz zaghaft. Niemand, der diese Gegenden besucht, wird Frauen antreffen, die BH’s verbrennen oder Betty Friedan zitieren. Aber sie beginnen, mit einer perversen Dynamik zu brechen, die zum ersten Mal im Jahre 1911 vom englischen Philosophen John Stuart Mill beschrieben wurde. Mill zufolge werden die Frauen von klein auf nicht nur darauf trainiert, den Männern, Ehemännern und Vätern zu dienen, sondern zu wünschen, ihnen zu dienen. Wie es scheint, entdecken die ärmsten Frauen Brasiliens gerade, dass sie mehr wünschen können als dies.

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AutorIn: Ursula Barros Penharvel · Bildquelle: AgenciaBrasil

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