Jahresrückblick 2010

2010 ist das letzte Jahr in der Amtszeit von Luiz Inácio Lula da Silva als Staatspräsident der Föderativen Republik Brasilien. Nach zwei Amtszeiten durfte er bei den allgemeinen Wahlen im Oktober nicht mehr kandidieren, mit Spannung wurde daher dem Ergebnis entgegen gesehen. Würde sich seine Wunschkandidatin Dilma Rousseff durchsetzen können oder sollte es zu einer politischen Richtungsänderung im grössten Land Südamerikas kommen?

Dies war jedoch nur einer der spannenden Momente in den vergangenen 12 Monaten. Auch die Fussball-Weltmeisterschaft dominierte für einige Wochen die Schlagzeilen sämtlicher Medien. Politik und Sport, Kultur und Natur – die Nachrichten aus Brasilien waren erneut so bunt wie das Land selbst. Das BrasilienPortal versucht daher wie gewohnt die wichtigsten Ereignisse des ablaufenden Jahres in einer Retrospektive zusammenzufassen.

DAS WICHTIGSTE AUS BRASILIEN 2010

Tragödie in Angra dos Reis

Der Jahreswechsel begann zunächst mit einer Tragödie. Während Millionen an den Stränden von Rio de Janeiro, Salvador oder Recife das neue Jahr mit einem Freudenfest begrüssten, starben 52 Menschen bei Erdrutschen im beliebten Urlaubsort Angra dos Reis im Bundesstaat Rio de Janeiro. Nach starken Regenfällen hatten mehrere Hänge nachgegeben und verschütteten zahlreiche Häuser in der Region. Über 1.000 Häuser wurden zerstört oder mussten später aufgrund massiver Schäden abgerissen werden, der Zivilschutz bezifferte den Schaden auf über 120 Millionen Euro.

Auch in den Bundesstaaten Minas Gerais und São Paulo und in anderen Gemeinden in Rio de Janeiro waren Todesopfer aufgrund unberechenbarer Naturgewalten zu beklagen. Heftige Regenfälle sorgten auch dort für Schlamm- und Gerölllawinen zum Jahresbeginn, weitere 28 Tote komplettierten die traurige Bilanz der ersten Tage des neuen Jahres.

Karneval in Rio de Janeiro und São Paulo

Mitte Februar richteten sich dann alle Augen auf die Sambódromos von São Paulo und Rio de Janeiro. Erneut standen die Paraden der besten Sambaschulen der Metropolen auf dem Programm. Farbenprächtige Kostüme und detailreiche Allegorien unter dem Rhythmus der mitreissenden Samba-Enredos machten vier Tage lang die Nacht zum Tag. Bis zum Morgengrauen kämpften jeweils mehrere tausend Teilnehmer der Schulen in der „Königsklasse“ um den begehrten Titel.

In der brasilianischen Wirtschaftsmetropole sicherte sich dabei die Sambaschule Rosas de Ouro zum siebten Mal den Titel. Mit 270 von möglichen 270 Punkten lag sie lediglich knappe 0.25 Punkte vor dem letztjährigen Sieger Mocidade Alegre, die sich mit dem zweiten Platz zufrieden geben musste. Die „goldenen Rosen“ hatten mit ihrer Präsentation „O Cacau é Show“ (Der Kakao ist eine Show!) und ein Feuerwerk an Emotionen aufgeboten und verwandelten die Parade in eine zuckersüsse Angelegenheit, bei der sogar flüssige Schokolade in einem kleinen Springbrunnen auftauchte.

Unter dem Zuckerhut konnte sich Sambaschule Unidos da Tijuca zum zweiten Mal nach 1936 über den Triumph in der „Grupo Especial“ freuen. Sie erreichte mit ihrer Präsentation unter dem Motto „É Segredo!“ (Es ist ein Geheimnis!) 299,9 von 300 möglichen Punkten. Die 32 Kostümgruppen verwandelten das von Stararchitekt Oscar Niemeyer entworfene Sambódromo in eine Arena der Täuschungen und Illusionen. Die Tänzerinnen der Begrüssungskommission wechselten binnen Sekunden mehrere Mal die Kleidung, die Bibliothek von Alexandria ging täuschend echt in Flammen auf und Superhelden erklommen wie von Geisterhand geführt steile Wände. Auch ein Allegoriewagen mit 5.000 echten Pflanzen und ein Doppelgänger des verstorbenen Popstars Michael Jackson, der auf dem letzten Motivwagen den weltbekannten Moonwalk vollführte, begeisterte die Zuschauer, die bei tropischen Temperaturen begeistert mittanzten und frenetisch applaudierten.

Unwetter-Katastrophe in Rio de Janeiro

In Rio de Janeiro sind Anfang April bei den schlimmsten Regenfällen der vergangenen 44 Jahren fast 250 Menschen zu Tode gekommen. Alleine in Niteroí im Grossraum der Millionenmetropole waren 153 Todesfälle zu beklagen, 43 davon am Morro do Bumba. Die am Hang einer ehemaligen Mülldeponie errichtete Siedlung wurde durch einen gewaltigen Erdrutsch begraben, rund 50 Häuser wurden vollständig zerstört.

In der Nacht zum 06. April war die Metropole unter dem Zuckerhut von sintflutartigen Regenfällen heimgesucht worden. Binnen weniger Stunden fiel fast doppelt so viel Niederschlag wie durchschnittlich in einem Monat. An zahlreichen Stellen gaben Hänge nach, die dort illegal errichteten Häuser in Armensiedlungen (Favelas) wurden von Schlamm- und Gerölllawinen mitgerissen.

In der sonst stetig pulsierenden Metropole unter dem Zuckerhut stand das öffentliche Leben faktisch still. Schulen und Kindergärten waren geschlossen, Behörden arbeiteten nur eingeschränkt. Viele der zahlreichen Tunnel der Stadt waren verschüttet oder überflutet, Schnellstrassen wurden unterspült. Bürgermeister Eduardo Paes bezeichnete die Situation als „absolutes Chaos“ und forderte die Menschen auf, ihre Häuser nur in Notfällen zu verlassen. Erst Wochen später normalisierte sich die Situation, viele Menschen leben jedoch auch jetzt noch in Notunterkünften.

Überschwemmungen im Nordosten

Die Unwetter-Katastrophe an der Guanabara-Bucht sollte jedoch nicht die letzte gewesen sein, die Brasilien im Jahr 2010 heimsuchte. Über 500 Millionen Euro Schaden verursachten im Juni massive Überschwemmungen in den Bundesstaaten Alagoas und Pernambuco im Nordosten des Landes.

Die Naturgewalten forderten hierbei 37 Menschenleben, über 70.000 Personen wurden obdachlos. Ganze Dörfer und kleinere Städte wurden von reissenden Fluten förmlich weggespült, Brücken und Schienenverbindungen weggerissen. In beiden Bundesstaaten musste der Notstand ausgerufen werden.

In vielen Gemeinden herrschten aufgrund der hohen Zahl an Obdachlosen über Wochen chaotische Zustände. Es fehlte vor allem an Lebensmitteln und Trinkwasser. Der Zivilschutz war im Dauereinsatz, über 100 Tonnen Lebensmittel und 36.000 Liter Trinkwasser wurden in betroffenen Regionen geschickt, die Rettungskräfte verteilten Matratzen, Decken und Hygieneartikel an die Bevölkerung. Die brasilianische Luftwaffe errichtete zudem ein mobiles Krankenhaus in der Region um Palmares in Pernambuco, da das dortige Hospital komplett überflutet wurde.

Seleção scheidet im Viertelfinale aus

Nach der verpatzten Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland sollte bei der Endrunde 2010 in Südafrika endlich der sechste Titel her. Dies zumindest forderte eine ganze Nation von der Seleção unter ihrem Trainer Carlos Dunga. Doch erneut scheiterten die Kanariengelben im Viertelfinale und kehrten mit hängenden Köpfen in ihre Heimat zurück. 45 desaströse Minuten reichten aus, um dem Traum von „Hexa“ zu begraben. Dunga wurde umgehend entlassen, nun steht Mano Menezes der brasilianischen Fussball-Nationalmannschaft vor. Er hat eine von Verbandpräsident Ricardo Teixeira geforderte umfassende Verjüngungskur eingeleitet und soll nun den fünffachen Weltmeister für die Weltmeisterschaft 2014 im eigenen Land vorbereiten.

Am Kap der guten Hoffnung hatte Brasilien allerdings einen vernünftigen Start hingelegt. Die Vorrunde überstand man durch Siege gegen Nordkorea (2:1), die Elfenbeinküste (3:1) und einem torlosen Unentschieden gegen Portugal (0:0) als Gruppenerster. Im Achtelfinale bezwang man Chile klar mit 3:0 und befand sich flugs in der Runde der letzten Acht. Im Halbfinale lauerten Uruguay oder Nigeria, mit Sicherheit zwei bezwingbare Mannschaften.

Doch zuvor musste der amtierende Südamerikameister und Gewinner des Konföderationen-Pokals 2009 im Viertelfinale gegen die Niederlande antreten. Wichtige Spiele bei Endrunden konnte man eigentlich immer gegen die „Oranje“ gewinnen und entsprechend selbstbewusst gingen Kaká und Co. in das wichtige Spiel. In der ersten Halbzeit sah man dann auch den zukünftigen Weltmeister spielen, der früh in Führung ging und diese sogar noch hätte ausbauen können. Doch in der zweiten Halbzeit geschah das für 190 Millionen Brasilianer unfassbare: ein Torwartfehler verursachte den Ausgleich, ein Eigentor besiegelte die 1:2 Niederlage und damit das erneut vorzeitige Ausscheiden.

Brasilien bekommt erstmals Staatpräsidentin

Veränderungen sollte es 2010 nicht nur bei der Seleção, sondern auch in der Politik geben. Im Oktober standen allgemeine Wahlen an, bei denen die Wahlpflichtigen nicht nur aufgefordert waren, den Staatspräsidenten sondern auch sämtliche Gouverneure der Bundesstaaten, die Kongressabgeordneten in Brasília und den regionalen Parlamenten sowie 2/3 der Senatoren neu zu bestimmen.

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Weltweit wurde natürlich der Kampf um die Nachfolge von Amtsinhaber Luiz Inácio Lula da Silva verfolgt, der nach zwei Amtsperioden nicht mehr kandidieren durfte. Er schickte dafür seine Wunschkandidatin Dilma Rousseff ins Rennen. Die ehemalige Ministerin im Präsidialamt erzielte bei der Stichwahl am 31. Oktober mit 56,05 Prozent der abgegeben gültigen Stimmen einen klaren Sieg, ihr Gegenkandidat José Serra von der sozialdemokratischen Partei PSDB kam auf 43,95 Prozent.

Im ersten Wahlgang am 03. Oktober hatte kein Kandidat die absolute Mehrheit erreichen können. Die Sozialistin von Lulas Arbeiterpartei PT erzielte überraschend nur 46,91 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen und verpasste damit die die notwendige absolute Mehrheit klar. Umfragen hatten die Technokratin zuvor deutlich über 50 Prozent gesehen. Der eher rechts stehende Sozialdemokrat José Serra erzielte mit 32,61 Prozent ein Ergebnis in der Nähe der letzten Prognosen. Deutlich besser als erwartet hatte jedoch die ehemalige Umweltministerin Marina Silva von den Grünen mit 19,33 Prozent der Stimmen abgeschnitten. Ihre Zugewinne von fast 6 Prozent in Bezug auf die Umfragewerte hatten letztendlich den Sieg Rousseffs im ersten Wahlgang vereitelt.

Die Tochter eines bulgarischen Einwanderers und einer Brasilianerin wurde am 14. Dezember 1947 in Belo Horizonte geboren und wuchs in der gehobenen Mittelklasse auf. Ihr Vater war Anwalt und Unternehmer sowie Mitglied der kommunistischen Partei Bulgariens. Im Wahlkampf hatte Rousseff versprochen, die Politik Lulas fortzuführen und auszubauen. Neben der Förderung des sozialen Wohnungsbaus und der Errichtung von Kindergärten, Vorschulen und technischen Universitäten will sie zukünftig massiver den Drogenhandel bekämpfen und durch eine verstärkte Sicherung der Grenzen den Schmuggel eindämmen. Am 01. Januar 2011 übernimmt sie das höchste Staatsamt von ihrem Vorgänger.

Vier Brasilianer in der Formel 1

Gleich vier Fahrer aus Brasilien kämpften 2010 in der Königsklasse des Motorrennsports der Formel 1 um Punkte. Doch weder Felipe Massa, Rubens Barrichello, Lucas di Grassi noch Bruno Senna konnten im Kampf um den WM-Titel mithalten. Felipe Massa wurde am Ende Sechster, Bruno Senna 23. und Lucas di Grassi 24.

Das Urgestein „Rubinho“ konnte wenigstens einen persönlichen Rekord aus der abgelaufenen Saison mitnehmen. 2010 absolvierte er seine insgesamt 18. komplette Formel-1-Saison, was noch keinem Fahrer jemals zuvor gelungen ist. Beim Grossen Preis von Singapur startete er offiziell zum 300. Mal in einem der mächtigen Boliden. In der Gesamtwertung belegte er nach einer durchwachsenen Saison am Ende Rang 10.

Kampf gegen Drogenmafia Rio de Janeiro

Seit geraumer Zeit wollen die Verantwortlichen in Rio de Janeiro die zahlreichen Favelas der Metropole befrieden. In einem ersten Schritt werden dabei die Armenviertel von Sicherheitskräften besetzt und der dortige Drogenhandel unterbunden. Später sorgen Einheiten der sogenannten „Friedenspolizei“ für die notwenige Sicherheit und Aufrechterhaltung der Ordnung.

Die Ausweitung dieses ehrgeizigen Projekts stösst bei den Drogengangs erwartungsgemäss auf heftigen Widerstand. Um die Kontrolle über die befriedeten Gebiete zurück zu gewinnen, verursachte das organisierte Verbrechen daher ab Mitte November durch zahlreiche Übergriffe und Provokationen ein regelrechtes Chaos in der Stadt unter dem Zuckerhut.

Entgegen früherer ähnlicher Situationen reagierten die Staatsorgane diesmal mit aller Härte. Zunächst wurden Hunderte von Polizisten eingesetzt, um die Favela Vila Cruzeiro unter Kontrolle zu bringen. Bei massiven Ausschreitungen kamen dabei mindestens 34 Menschen ums Leben, Dutzende Kriminelle flüchteten letztendlich in den nahegelegenen Favelakomplex Alemão.

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Dieser Zusammenschluss aus verschiedenen Armenvierteln gilt als Hochburg des Drogenhandels in Rio de Janeiro. Die Stadt forderte daher von Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva umfangreiche militärische Unterstützung an. Am Ende „eroberten“ Ende November mehr als 2.700 Polizisten, Spezialkräfte und Soldaten das Viertel, in welches sich zuvor keinerlei Polizei hinein getraut hatte. Panzer rollten durch die Strassen, Militärhubschrauber gaben den Einheiten Deckung.

Die bürgerkriegsähnlichen Zustände, bei denen zahllose Anwohner mit ihrem gesamten Hab und Gut unter fortwährendem Gewehrfeuer flüchteten, waren jedoch bereits nach kurzer Zeit beendet. Rund 50 Tonnen Drogen sowie eine Vielzahl von Waffen und Munition wurden sichergestellt. Zudem konnten einige seit langem gesuchte Anführer der Drogengangs festgenommen werden. Darunter ist auch der unter dem Namen „Zeu“ bekannte Drogendealer Eliseu Felício de Sousa. Er war im Jahr 2002 als Mittäter am Mord des Journalisten Tim Lopes verhaftet worden und 2007 nach einem Freigang nicht wieder ins Gefängnis zurückgekehrt.

Abholzung in Amazonien

Eine positive Nachricht erreichte die Menschen des Landes Anfang Dezember aus Amazonien. Die Abholzung im Amazonasgebiet in Brasilien hatte sich auch im Jahr 2010 weiter verlangsamt und damit den niedrigsten Stand seit 23 Jahren erreicht. Allerdings umfasste die zerstörte Fläche von 6.451 km² weiterhin rund 900.000 Fussballfelder. Der Bundesstaat Pará war mit 3.710 km² erneut Spitzenreiter bei der Zerstörung des unvergleichlichen Bioms. Am dem zweiten Platz folgte der Mato Grosso (828 km²) vor Maranhão (679 km²) und dem Amazonas (474 km²).

Experten warnten bei der Veröffentlichung der Daten jedoch davor, dass die Verlangsamung der Zerstörung des amazonischen Regenwaldes nur vorübergehender Natur sein könnte. Nach verschiedenen Studien renommierter Umweltorganisationen könnte sich die Abholzung in den kommenden Jahren wieder erhöhen, sollten die bestehenden Umweltgesetze abgeändert werden. Der „Código Florestal brasileiro“ soll so modifiziert werden, dass die wirtschaftliche Entwicklung in der Amazonasregion flexibler gestaltet werden kann. Was für die Bewohner der abgelegenen Region Fortschritt und mehr Beschäftigung bedeutet, könnte sich jedoch sehr schnell negativ auf das wichtigste Ökosystem der Welt auswirken.

Soweit der BrasilienPortal – Jahresrückblick 2010 mit den wichtigsten Meldungen aus den vergangenen 12 Monaten. Wir wünschen allen unseren Lesern einen guten Rutsch ins neue Jahr und ein glückliches und erfolgreiches 2011. Feiern Sie schön – wo immer Sie uns lesen!

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