Geschichte Januar 2010

Zuletzt bearbeitet: 20. September 2012
In der Gegend von Persien gab es einst ein kleines Königreich, dessen jüngstem Thronanwärter die Gelehrten des Reiches eine aussergewöhnliche Intelligenz bescheinigten. Obwohl noch jung an Jahren, kannte er sich in sehr komplexen Wissensgebieten aus wie kein anderer, und sein Verstand machte so rapide Fortschritte, dass selbst wesentlich ältere Schüler nicht mithalten konnten. Er besass alle Anlagen, um ein erfolgreicher und glücklicher Mann zu werden, mit einer brillanten Zukunft.

Allerdings litt er unter dem Eindruck, dass ihm stets etwas fehle. Er fühlte eine unendliche Leere in seinem Herzen, und nichts von dem Wissen, das er in sich aufnahm, vermochte ihm das zu geben, wonach er sich am meisten sehnte: einen Sinn für sein Leben!

Als er 18 Jahre alt geworden, beschloss er den König, seinen Vater, aufzusuchen, um ihm seine Sorgen anzuvertrauen. Der Vater erzählte ihm aus der Familiengeschichte und von der Hochzeit seines Grossvaters, durch welche die Familie einst gegründet wurde – mit einer Zauberin. Die hatte er nicht aus Liebe geehelicht, sondern aus Machtgier – er glaubte, sich der Zauberkräfte seiner Gattin bedienen zu können, um andere Völker zu erobern. Als die Zauberin den wahren Grund dieser Eheschliessung erfuhr, wurde sie sehr zornig und verliess ihren Mann – nachdem sie über seine gesamte Familie einen fürchterlichen Fluch ausgesprochen hatte: niemand von ihnen sollte je die wahre Liebe kennenlernen.

Und so kam es. Von diesem Tag an war es niemandem von Grossvaters Nachkommen, in deren Adern auch nur ein Tropfen seines Blutes floss, vergönnt, die wahre Liebe kennen zu lernen.

Da verstand der junge Prinz, warum jene Dynastie seines Grossvaters vom Volk das “Königreich des versteinerten Herzens” genannt worden war. Und dann wollte er vom Vater wissen, ob man dieses Unglück nicht irgendwie neutralisieren könne. Dieser gab ihm zur Antwort, dass nichts unmöglich sei, wenn man es sich nur stark genug wünsche. Er riet seinem Sohn, Nihan aufzusuchen, die mächtigste unter allen Zauberinnen und Hexen – für sie gäbe es kein Problem ohne Lösung. Sie war berühmt für die Entschlüsselung der schwierigsten Rätsel und die Abwendung des grössten Unglücks. Dann erzählte ihm der Vater noch, dass Nihan bei seiner Taufe anwesend war – das sie ihn sehr gerne habe und sicher einen erfolgreichen Weg wissen würde, die Leere in seinem Herzen zu füllen.

Voller Hoffnung machte sich unser Prinz auf den Weg, um jene Oberhexe zu besuchen. Und als er vor ihr stand, erkannte sie ihn sofort und bestätigte ihm, dass jener Fluch tatsächlich auf seiner Familie laste. Sie erkannte die ganze Kraft und Intelligenz des jungen Mannes, und dachte bei sich, dass die auch dringend nötig sein würden, um jenen Fluch zu überwinden.

Dann sagte sie zu ihm, dass es nicht leicht sein würde dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen – und dass die Männer aus seiner Familie in der Tat niemals die Liebe als notwendig in ihrem Leben betrachtet hätten. Ein Leben, so als ob man niemals den Frühling gesehen hätte – und niemand war es aufgefallen! Sie hatten stets, was sie wünschten, und brauchten niemals ein Wunder – so eins, das nur die Liebe zu vollbringen weiss. Sie begnügten sich mit den materiellen Dingen und niemals verewigten sie ein Gefühl – so eins, das nur die wahre Liebe verewigen kann. Und die Lösung für all das könnte nur von einem kommen, der sich eine wahre Liebe wünschte.

Der Prinz wollte nun wissen, was zu tun sei. Und die Zauberin verwies ihn auf den einzigen gangbaren Weg: den der Demut und Bescheidenheit, indem er sämtliche Hindernisse seiner königlichen Herkunft und Bedeutung und auch die Mauer des Egoismus überwinden müsse. Liebe verlangt ein stetiges, bedingungsloses Geben, also darfst du weder mit deiner Eigenliebe paktieren, noch mit deinem Aussehen oder deinen Gütern.

Nun wollte er wissen, wie er diese Aufgabe in die Praxis umsetzen solle. Die Zauberin riet ihm, seinen bisherigen Weg zu überdenken – dass er sich auf dem Weg des Wissens befände mit dem Ziel, einst alles gelernt zu haben – aber er habe vergessen, sich mit dem Erlernen der Liebe zu befassen. Richtig wäre es, so meinte sie, seinem Wissen und der Liebe eine gleiche Gewichtung zu geben – denn Wissen ohne Liebe ist kalt und berechnend, und Liebe ohne Wissen macht einen zum blossen Dummkopf.

Dann schlug sie ihm vor, ihm eine Aufgabe zu stellen, mit der er schnell in beiden Richtungen vorwärts kommen würde. Und unser Prinz, äusserst erfreut, versprach, sich zu verpflichten, alles dafür Notwendige zu erfüllen. Also schickte sie ihn in das Nachbarkönigreich, um dort einen Weisen aufzusuchen, der ein grosser Gelehrter und Kenner der Medizin sei. Allerdings warnte sie ihn noch, dass jener Weise äusserst arrogant sei, ein Egoist, der keines seiner Geheimnisse je mit einer anderen Person geteilt habe. In seinen Ansprachen pflegte er zu sagen, dass er all sein Wissen mit sich ins Grab nähme. Die Zauberin auferlegte unserem Prinzen, mit jenem Egoisten zu leben, von ihm zu lernen, was immer ihm möglich wäre, jedoch stets darauf bedacht zu sein, sich als das genaue Gegenteil von jenem zu beweisen.

“Aber was kann ich schon von diesem Mann lernen, wenn er mit niemandem sein Wissen teilt”? fragte der Prinz. Und die Zauberin antwortete, dass sie ihm einen alten Diener mitgeben würde, welcher ihm bei seinen Absichten behilflich sein würde. Und dann erklärte sie ihm ihren Plan, wie er jenen egozentrischen Gelehrten dazu bringen könnte, sein Wissen mit ihm zu teilen, ohne es zu merken.

Und unser Prinz machte sich auf den Weg. Nach einer Woche kam er ans Ziel seiner Reise und klopfte an die Tür des Gelehrten. Als sich die Tür öffnete, stellte sich der Diener als Vater des Jungen vor, indem er sagte:

“Mein Herr, ich bin ein armer, müder Alter – bin heute in dieses Königreich eingereist mit meinem taubstummen Sohn. Er braucht eine Arbeit, und man hat mir gesagt, dass Sie ihn vielleicht anstellen würden, denn er stört niemanden, weil er nicht spricht, und er kann auch keine Informationen weitergeben, weil er nicht hört und auch nicht lesen kann. Er ist aber sehr arbeitswillig und wäre praktisch Ihr Sklave! Sie brauchen ihn auch nicht anzusprechen – jedwede Geste, die Sie machen, versteht er sofort. Er ist intelligent und pfiffig, und er hat gelernt, die Älteren zu respektieren”.

Der Gelehrte schaute ein bisschen misstrauisch drein, aber der alte Diener warf ein, dass sein Sohn äusserst diskret sei, und dass man seine Gegenwart kaum bemerke, wenn man ihn nicht brauche.

Dem Gelehrten lag während der Ansprache des angeblichen Vaters das NEIN auf der Zunge – aber jener argumentierte ohne Pause – jetzt damit, dass die Dienste seines Sohnes den “Herrn Professor” nicht mehr als ein paar wenige Mahlzeiten kosten würden, und das er selbst lediglich die Beruhigung haben wolle, seinen Sohn untergebracht und ernährt zu wissen, denn er selbst habe nicht mehr die Kraft dazu.

Erst mal sagte der Gelehrte gar nichts – aber er überlegte und sah sehr wohl die Vorteile, welche er durch einen intelligenten Diener haben würde, der auch noch taubstumm war und somit unfähig, sein Wissen zu erlernen oder weiterzugeben, bereit, für Kost und Logis zu arbeiten – also entschloss er sich zuzusagen, unter der Drohung, ihn sofort rauszuwerfen, wenn er dem nicht entspräche, was der Vater ihm versprochen.

Der alte Diener bedankte sich und zog sich zurück – und kaum war er von der Bildfläche verschwunden, unterzog der Gelehrte seinen neuen Diener einem ersten Test: denn er wollte ganz sicher gehen, dass dieser tatsächlich taubstumm war.
Er servierte dem jungen Mann ein Getränk, in welches er vorher ein starkes Schlafmittel gemischt hatte. Der Junge trank und fiel auch sofort in tiefen Schlaf. Als er die Wirkung des Schlafmittels nachliess, erwachte er allein in einem grossen Zimmer und wunderte sich einen Moment, bis er begriff, dass sein neuer Meister ihn eingeschläfert hatte – also sprang er im Haus herum, um seine Schläfrigkeit möglichst schnell loszuwerden – und als jener zurück kam, stellte er sich schlafend.

Der Gelehrte merkte nichts, nahm eine Nadel und stach seinen schlafenden Diener mit aller Kraft in den Fuss. Wenn dieser junge Mann nicht stumm wäre, würde er jetzt wohl einen Schmerzensschrei ausstossen. Aber unser Prinz, hellwach und auf der Hut, tat lediglich einen gewaltigen Satz begleitet von einem Grunzen – so wie man es von einem Stummen gewohnt ist – und es gelang ihm, den gewaltigen Schmerz unter Kontrolle zu halten. Dann fragte ihn der Meister, was geschehen sei, und der Junge tat so, als ob er ihn nicht höre. Das genügte – der Gelehrte war zufrieden und überzeugt, dass sein neuer Diener tatsächlich taubstumm sei. Und von diesem Tag an diente ihm der Prinz.

Wenn sein Meister mal ausser Haus war, stöberte er in dessen enormer Bibliothek herum, sah sich die Notizen an und vermehrte sein Wissen rasch. Da der Gelehrte aber selten ausging und er zuhause niemand hatte, mit dem er reden konnte, hatte er sich angewöhnt, laute Selbstgespräche zu führen, denen der junge Prinz aufmerksam lauschte. So entwickelte der junge Mann seine Aufmerksamkeit, Konzentration und sein Erinnerungsvermögen – und er erfuhr von zahlreichen Geheimnissen, Menschen zu heilen. Schliesslich war er genauso geschickt und kompetent wie sein Meister selbst – das heisst, auf einigen Gebieten fing er sogar an, diesen zu übertreffen. Nur eins war ihm noch nicht gelungen, das Geheimnis eines Safes zu ergründen, den der Meister stets sorgsam unter Verschluss hielt.

Die Zeit verging, und eines Tages erkrankte der Monarch jenes Königreiches. Der Gelehrte wurde gerufen, denn die königlichen Leibärzte waren mit ihrem Latein am Ende. Interessiert am Prestige und einem Haufen Geld, eilte jener dann auch sofort zum Hof – er nahm seinen taubstummen Diener mit, um die verschiedenen Instrumente zu tragen, die er eventuell für eine Operation brauchen würde. Als er den kranken König vor sich hatte, bemerkte er, dass dessen Kopf enorm angeschwollen war – er rasierte die Haare an der geschwollenen Stelle ab und bemerkte einen Tumor, den er aufschnitt. Darin befand sich ein schrecklicher Wurm, der durch eine Membran mit dem Gehirn verbunden schien. Mit seinen Instrumenten versuchte er nun den Wurm herauszuholen, aber dieser klammerte sich fest an jener Membran – und der König brüllte vor Schmerz.

Unser junger Prinz verfolgte die Szene aufmerksam, und als der König nur noch wimmerte und zu sterben drohte, schob er seine bisherige Tarnung beiseite und sprach den Gelehrten an: “Meister – wenn Ihr dem Wurm den Rücken anbrennt, dann wird er die Membran loslassen”!

Der Gelehrte war perplex und die Wut rötete sein Gesicht. Nicht genug, dass der Vater des Jungen ihn angelogen – jetzt stellte dieser ihn auch noch in aller Öffentlichkeit bloss – und um seiner Blamage die Krone aufzusetzen, forderten nun die Ärzte des Palastes den jungen Mann auf, an seiner Statt die Operation vorzunehmen. Unter den ungläubigen Augen seines Meisters führte der junge Mann nun alle notwendigen Schritte mit Erfolg durch und entfernte den Wurm. Dann versorgte er die Wunde, applizierte geschickt einen Verband um den Kopf seiner Majestät und verordnete dem König ein paar therapeutische Substanzen, die er durch die Bücher seines Meisters kennengelernt hatte. Auf Anordnung des Königs und seiner Ärzte verblieb unser Prinz im Palast bis zur definitiven Gesundung seiner Majestät. Während dieser Zeit überhäufte man ihn mit Ehrungen, und schliesslich schenkte ihm der dankbare König eine Truhe voller Gold.

Jener Gelehrte aber, wegen seiner Unfähigkeit, fiel in Ungnade und starb schliesslich an einem Herzanfall, verzehrt von seiner Wut. Sein Haus und seine Bücher fielen an die Regierung, und die übergab sie jenem jungen Mann, der inzwischen durch sein Wissen berühmt geworden war. Er fuhr fort, die Menschen zu heilen und sein Wissen zu vervollkommnen.

Dann hatte er eines Nachts einen Traum, in dem die Zauberin zu ihm sprach:

“Du hast Dir nun alles Wissen der Welt zu eigen gemacht und hast es verstanden, Dich von Deinem Ego zu befreien, indem Du andere Menschen rettest – obwohl Du lange Zeit einem so unsensiblen Menschen folgen musstest. Mach’ so weiter – diene Deinem Nächsten in Liebe und Zuneigung”!

Und das tat er. Allen, die zu ihm kamen, war er zu Diensten, wusste immer einen guten Rat und bevorzugte Jene, die arm und bedürftig waren. Daneben versammelte er solche Menschen um sich, deren Intelligenz ihm aufgefallen war, damit sie alles lernten, was er wusste.

Die Zeit verrann, und die Zauberin erschien ihm wieder im Traum – sie bat ihn, nunmehr den Safe seines verstorbenen Meisters zu öffnen, was er sofort nach dem Erwachen auch tat. Darin befand sich ein Pergament, das in zierlichen Buchstaben die Existenz einer Elfe in einem wundervollen Königreich beschrieb. Die winzige Schrift war so lieblich anzusehen, das unser Prinz den Eindruck hatte, die Verfasserin vor sich zu sehen – und er verspürte zum ersten Mal in seinem Herzen eine Regung, die er vorher nie gekannt. Und er vermutete, dass jenes feine Vibrieren in seiner Brust vielleicht mit diesem Gefühl zu tun habe, was die andern Liebe nannten. Und ohne sie je zu Gesicht bekommen zu haben, begann er, jene Elfe zu lieben. Und Tag für Tag wuchs seine Begierde, sie kennenzulernen. Er versuchte einige Rituale zu praktizieren, deren er sich aus den Büchern des verstorbenen Meisters erinnerte – wie man eine bestimmte Person für Momente herbeizitieren kann – und nachdem er vierzig Tage lang herum experimentiert hatte, erschien plötzlich vor ihm, entstiegen aus seiner Brust, die Elfe. Und sie war noch viel schöner, als er sie sich vorgestellt hatte – unmöglich, dass der grösste aller Dichter sie hätte beschreiben können, und kein Maler wäre je ihrem Liebreiz gerecht geworden.

Weil er gemerkt hatte, dass sie seiner Brust entstiegen war, fragte er sie aufgeregt:
“Wie ist das möglich, dass Du meinem Innern entstiegen bist”? Und die Elfe antwortete ihm: “Ich war immer in Dir drin”!

“Aber wer bist Du”? wollte er wissen.

“Ich bin Deine Seele. Und ich bin schön, dank Deines Umgangs mit mir – wenn Du zum Beispiel wie Dein verstorbener Meister wärst, wäre ich hässlich. Durch Aneignen von Wissen, die Kunst der Bescheidenheit erlernen und dem Nächsten dienen, das macht mich schön. Wenn Du fortfährst, mich zu pflegen, mich zu führen und in dieser Weise zu nähren, werde ich immer schöner werden. Solltest Du mich dagegen verlassen, werde ich zur Megäre”!

Und nachdem er diesen Einblick in seine eigene Seele getan, keimte in ihm wieder die Hoffnung, dass er jenen fürchterlichen Fluch seiner Familie vielleicht doch noch aufheben könne. Schliesslich hatte er für sich selbst endlich die Liebe entdeckt. Und zu seiner Überraschung besuchte ihn seine Freundin, die Zauberin – als sie seine Wandlung bemerkte, nannte sie ihn “Diener der Liebe” und vertraute ihm an, dass der grosse Architekt des Universums die Liebe sei, und dass nichts so hart geschaffen sei, dass es nicht durch das Feuer der Liebe gebogen werden könne! “Die Liebe ist der himmlische Tropfen, den die Götter in den Kelch des Lebens gegeben haben, um die Bitternis Deiner Existenz zu versüssen”!

Und unser “Diener der Liebe” gab all das weiter an seine Schüler, was er eben gelernt hatte: Dass, wenn man Liebe sät, sich das Leben als nützlich und sinnvoll erweist. Dass sich sogar die verhaftetesten Probleme durch die Liebe lösen lassen. Und, dass ein Leben ohne Liebe unfruchtbar und schal ist. Dass das Menschenleben vergänglich ist, jedoch die Ewigkeit erreicht, wenn es von der Liebe berührt wird. Dass der Weg zur Liebe lang und hart ist, und dass man sich vor der Bescheidenheit beugen und viele Steine wegräumen muss, die Selbstherrlichkeit und den Egoismus, um sie zu finden.

Dass die Liebe ein stetes Geben ist und sich mit dem Wissen die Waage halten sollte. Und, dass die Basis der Liebe, unsere Seele, stets sorgfältig behütet werden sollte – die beste Art dies zu tun, ist unser Dienst am Nächsten. Und schliesslich: Wenn wir die Liebe im Herzen tragen, gewinnt unser Leben an Kraft, Sinn und Inhalt!

Ihre Janice Drummond Reynolds

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