Weisse Weihnachten

Zuletzt bearbeitet: 29. Oktober 2013

Und es geschah, dass es an jenem 24. Dezember in Brasilien zu schneien anfing. Kein lokales Phänomen, eine regionale Anomalie etwa, oder ein begrenztes Wunder. Es schneite in ganz Brasilien – vom Oiapoque–Fluss bis zum Chui. Und sowohl der Oiapoque, im äussersten Norden, als auch der Chui, im äussersten Südzipfel, froren zu.

Gegen Ende des Nachmittags hatte es eine brüske Veränderung der nationalen Temperaturen gegeben. Dunkle, schwere Wolken waren überall am Horizont aufgezogen. Ein Mann, der Schnee kannte, weil er schon einmal die Alte Welt bereist hatte, sagte: “Es wird schneien“ Und erreichte mit dieser Bemerkung ungläubiges Staunen bei den einen und die Erwartung einer Sensation bei den andern – denn er befand sich in Manaus.

Und es schneite tatsächlich in Manaus – es schneite überall im Amazonasgebiet. Die Bäume des Regenwaldes wurden vom Schnee bedeckt. Der Amazonas–Urwald sah aus wie ein schneebedeckter Tannenwald aus Europa. Und der Nordosten glich Kanada.

In São Paulo wurde der Schnee mit einem gewissen Gleichmut empfangen. Es gab welche, die meinten “endlich“, wollten damit sagen, dass São Paulo, als amerikanischer Stadt, bisher lediglich das Klima gefehlt hatte – und “endlich“ hatte sie es. Und ihr Wunschdenken hatte nun endlich die Geografie verbessert. Aber im Rest des Landes, besonders in Gegenden, wo man bisher keinen Wintersport kannte, entsetzten sich die Menschen – dann siegte die Euphorie der Jugend. In Rio de Janeiro rannten alle auf die Strasse, trotz unpassender Bekleidung. Man bildete Volksketten auf den Trottoirs, während man in den Penthäusern auf den Dächern das Fest mit Cognac, Fondue und gemeinsamen Decken beging. Jetzt plötzlich passte die Lichterdekoration zum Strassenbild, und der riesige Weihnachtsbaum zur zugefrorenen Lagune. Noch war es nicht Mitternacht, da fand schon ein Wettbewerb um den schönsten Schneemann am Strand von Copacabana statt.

Curitiba war die einzige Stadt Brasiliens mit einem Notstandsplan für den Fall, dass es im Sommer schneien könnte. Aber die allgemeine Aufregung schlug so hohe Wellen, das man den Plan vergass.

In Rio Grande do Sul feierte man das touristische Potential des weihnachtlichen Schneefalls – schliesslich war Schnee in der Südregion eigentlich nichts Neues, aber er pflegte sich zwischen Juni und Juli einzustellen. Und dann verbreitete sich die Nachricht, dass es in Maranhão noch mehr schneie. Und, sehr eigenartig, es schneite nur bis an die Grenze zu Argentinien und Uruguay. Auf der anderen Seite herrschte die übliche weihnachtliche Hitze. Das Wunder offenbarte sich Argentiniern und Uruguayern nicht. Das Wunder war eine Exklusivität der Brasilianer. Nur sie hatten, wie Bing Crosby, von einem weissen Weihnachten geträumt – mehr als von irgendetwas anderem.

Verblüffung allenthalben, jugendliche Euphorie. Dann Angst. Die Kirchen füllten sich mit verängstigten Personen. Was hatte das alles zu bedeuten? Es war kein Marketing–Streich – konnte also nur eine Botschaft Gottes sein. Was für eine Botschaft? Das Chaos begann seinen Lauf.

Unfälle auf den rutschigen Strassen. Tumult auf den Flughäfen, die wegen des Schneegestöbers die Start– und Landebahnen schlossen. Nachdem die erste Freude über die Schneeflocken vorbei war, entdeckten die Brasilianer, dass sie nunmehr Geiseln der weissen Weihnacht geworden waren. Und der Preis für die Gesellschaft?

Als der Morgen dämmerte, am 25. Dezember, war der Preis, den die Gesellschaft für den weihnachtlichen Schnee bezahlt hatte, offensichtlich. Selbst denjenigen, welche in ihren Wohnungen eine Klimaanlage installiert hatten, gelang die plötzliche Umstellung auf Heizen nur in den seltensten Fällen – jener Teil der Apparatur war völlig vernachlässigt worden und funktionierte nicht mehr. Wer keine Wohnung hatte, der schaffte es kaum bis Mitternacht am Leben zu bleiben. Nicht zu vergessen die Fauna und Flora und die Landwirtschaft. Schön war der Schnee. Aber lohnte sich der Preis, den die Gesellschaft dafür zahlen musste?

Vielleicht doch? Wenn man es recht bedenkt, nach dem Schnee – und nach den Überschwemmungen, die das schon am nächsten Tag einsetzende Tauwetter verursachte, denn am 26.12. kam der Sommer zurück – überlebten im ganzen Land nur die Teile der Bevölkerung, welche auf Schnee zu irgendeiner Jahreszeit vorbereitet gewesen. Nur die wirklich für Weisse Weihnachten Berufenen. Das Weiss des Schnees war – neben seinem wundervollen Kontrast zu den bunten Lichtern – auch eine Metapher der Purifikation. Brasilien war gereinigt worden. Selbst der unter der unzeitigen Kälte erstarrte Boden und die gefrorenen Gewässer waren eine Metapher des Neuanfangs. Wenn es jetzt im nächsten Jahr wieder schneien würde, würden die Flocken auf ein anderes Land fallen – mit weniger Menschen, aber Menschen mit einem anderen Level – einem abgekühlteren.

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AutorIn: Klaus D. Günther

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