Peinliche Situation

Zuletzt bearbeitet: 2. Januar 2013

Das ist Ihnen bestimmt auch schon mal passiert. Plötzlich taucht jemand vor Ihnen auf und fragt:
“Na, erinnerst du dich an mich“?  Und Sie erinnern sich überhaupt nicht. Also suchen Sie geradezu frenetisch sämtliche abgelegte Archive Ihrer eingerosteten Erinnerung durch und vergleichen das vor Ihnen pendelnde Gesicht mit den Namen, die Ihnen einfallen – aber nichts passt.

Und es gibt keine Zeit, jetzt auch noch das deaktivierte Archiv durchzusehen. Da steht der Typ, direkt vor Ihnen, lächelnd, mit leuchtenden Augen, Ihrer Antwort entgegen gierend – erinnern Sie sich nun oder erinnern Sie sich nicht?

In diesem Moment haben Sie drei Möglichkeiten – es gibt drei Wege, die Sie beschreiten können – einen kurzen, groben und ehrlichen:
“Nein“!
Sie erinnern sich nicht an ihn, und Sie sehen auch keinen Grund, warum Sie dies verbergen sollten. Ein trockenes „Nein“ könnte sogar einen gewissen Tadel der Frage insinuieren: So eine potentiell verwirrende Frage stellt man nicht, niemandem, mein Teurer! Wenigstens nicht unter gut erzogenen Personen! Sie sollten sich schämen. Leben Sie wohl. Ich erinnere mich nicht an Sie, und selbst wenn ich es täte, würde ich es nicht zugeben. Leben Sie wohl!

Eine andere Möglichkeit – weil Ihnen die erste zu brüsk erscheint – ist weniger ehrlich, aber durchaus vernünftig – nämlich die der Verstellung:
“Aber das ist ja nicht möglich! Sag’s mir nicht! Du bist der… der…“

“Sag’s mir nicht“, heisst in diesem Fall natürlich “Sag’s mir, sag’s mir“! Sie rechnen mit dem Erbarmen Ihres Gegenüber und wissen, dass er sich früher oder später zu erkennen geben wird – und damit wird auch Ihre Agonie ein Ende haben. Und dann können Sie noch so etwas ergänzen wie:
“Entschuldige mich, das muss das Alter sein, aber…“

Dies wäre ebenfalls ein Appell an seine Barmherzigkeit. Es bedeutet “martere einen armen Gedächtnislosen nicht, sondern sag ihm bitte, wer Du bist“! Dies wäre eine sympathische Art zuzugeben, dass Sie keine Ahnung haben, wer er sein könnte, das diese Tatsache allerdings nicht auf seiner Unbedeutendheit beruht sondern auf einer Defizienz ihrer eigenen Neuronen.

Und es gibt eine dritte Möglichkeit – einen dritten Weg – der weniger vernünftig und auch weniger zu empfehlen ist. Denn er kann tragisch enden und sogar in den persönlichen Ruin führen. Ist klar, Sie wählen natürlich diesen:
“Klar, erinnere ich mich an Dich“!

Sie möchten ihn nicht enttäuschen, das ist es. Es gibt statistische Beweise, dass der Wunsch, andere Menschen nicht enttäuschen zu wollen, Grund der weitaus meisten gesellschaftlichen Desaster ist. Sie möchten nicht zugeben, dass er durch Ihr bisheriges Leben gegangen ist, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Und nachdem Sie jenen Satz gesagt haben, gibt es kein Zurück. Sie sind in den Abgrund gesprungen. Gottes Wille geschehe! Und dann setzen Sie sogar noch einen drauf:

“Mann, wie viel Zeit ist seither vergangen“!
Jetzt hängt alles von der Reaktion Ihres Gegenübers ab. Wenn er ein Draufgänger ist, wird er Sie provozieren:
“Nun, dann sag mir, wer ich bin“!
In diesem Fall haben Sie keinen anderen Ausweg als einen Herzanfall zu simulieren und zu warten – unter ebenfalls simulierter Ohnmacht – dass eine Ambulanz Sie aus der peinlichen Lage rettet. Aber natürlich kann er auch barmherzig sein und nur sagen:
“Wem sagst Du das“.

Oder:
“Ja, eine sehr lange Zeit“.

Jetzt haben Sie Zeit gewonnen, um noch einmal etwas sorgfältiger in Ihrer Erinnerung zu kramen. Wer mag dieser Kerl nur sein, mein Gott? Und während Sie Kisten mit alten Akten durchwühlen – inmitten des Staubs und der Spinnennetze Ihres löchrigen Gehirns – halten Sie ihn mit belanglosen Fragen auf Distanz:
“Wie ist es Dir denn ergangen“?
“Ach, weisst Du, eigentlich ganz gut“
“Ist das wirklich wahr“?
“Natürlich“!

(Ein Schulkollege. Aus dem Militärdienst. Ob es ein Verwandter sein kann? Herrgott, wer ist der Kerl?) Und dann sagt er:
“Hab gedacht, Du würdest mich nicht erkennen…“
“Aber wieso denn“?
“Nun, weil man manchmal von gewissen Leuten enttäuscht ist und sich dann nicht mehr an sie erinnern möchte“.
“Aber ich doch nicht. Wie hätte ich Dich denn vergessen können?
Ausgerechnet Dich“?
“Nun, die Leute ändern sich – was weiss ich“!

“Was für eine Idee“! (Es ist der Ademar! Nein, kann nicht sein, der Ademar ist gestorben. Ich war bei seiner Beerdigung. Und der . . wie war doch gleich sein Name…? Hatte ein Holzbein. Antonio! Aber wie wissen Sie, dass er ein Holzbein hat? Sie könnten ihm einen freundschaftlichen Tritt versetzen. Und wenn ich das gesunde Bein dabei träfe? Dann treten Sie ihn eben an beide Beine!) Gesagt, getan:
“Wie gut Dich endlich mal zu treffen“ – und paff, treten Sie ihm ans eine Bein –
“was für eine Freude“! – und paff, treten Sie ihm ans andere Bein.
Verdammt, wer ist der Kerl?
“Unglaublich, wie man einfach allen Kontakt verliert“!
“So ist es“.

Und nun machen Sie einen ganz anderen Versuch. Der ist ein bisschen riskant, aber in einem solchen prekären Moment sollte man Mut beweisen:
“Hast Du jemanden aus unserem alten Verein wieder gesehen“?
“Nur den Pontes“
“Ja, der gute alte Pontes“!

(Pontes? Haben Sie je einen Pontes gekannt? Jetzt haben Sie aber wenigstens einen Namen, mit dem Sie arbeiten können. Eine Karteikarte fürs Archiv – Pontes? Pontes…?)
“Erinnerst Du dich an den Mattos“?
“Natürlich“!
“Nun, den treffe ich manchmal beim Scheibenschiessen“.
“Der alte Mattos“!

(Mattos? Scheibenschiessen? Sie kennen keinen Mattos und haben auch nie auf Scheiben geschossen! Es hat keinen Zweck. Die Hinweise greifen nicht. Sie entschliessen sich, alle Vorsicht zu vergessen und zum Angriff überzugehen. Ein etwas verzweifelter Angriff. Der letzte, bevor Sie auf Herzanfall appellieren werden):
“Rezende…“
“Wer“?

Nein, so heisst er also auch nicht. Wenigstens ist das geklärt. Mit dem Mut der Verzweiflung erklären Sie: “Gab es nicht einen Rezende in unserem Verein“?
“Daran erinnere ich mich nicht“.
“Ich muss ihn verwechselt haben“.

Stille legt sich einen peinlichen Moment lang über dieses unverhoffte Wiedersehen. Sie spüren, dass Sie kurz davor stehen, demaskiert zu werden. Er sagt:
„Weisst Du überhaupt, dass die Ritinha geheiratet hat“?
“Nein“!
“Hat sie tatsächlich“!
“Wen denn“?
“Ich glaube, dass Du den nicht kennst – den Bituca“.

Jetzt haben Sie keinerlei Skrupel mehr. Zum Teufel mit der Vorsicht! Wenn denn die Blamage nicht verhindert werden kann, dann soll sie doch vollkommen sein – total! Sie steigern sich in eine gewisse Untergangs–Euphorie hinein, ein Delirium vor dem Sprung in den Abgrund. Warum kennen Sie den Bituca denn nicht?)
“Klar, habe ich ihn gekannt! Der gute, alte Bituca…“
“Eben, den hat sie geheiratet“

Das ist nun Ihre Chance. Dies ist Ihr Ausweg aus der Blamage. Gehen Sie nun zum Angriff über:
“Und sie haben mir nichts davon gesagt“?
“Aber sieh doch…“

“Nein! Nun warte aber mal. All das geschieht: die Ritinha heiratet den Bituca, der Mattos schiesst auf Scheiben, und niemand sagt mir etwas davon“?

“Nun ja – wir haben eben den Kontakt verloren und…“
“Aber mein Name steht in der Liste, mein Lieber. Ein Anruf hätte genügt. Man hätte mir doch wahrhaftig eine Einladung schicken können“.
“Ist ja wahr“.
“Und nach alledem glaubst Du, dass ich Dich nicht wieder erkennen würde. Ihr seid es, die mich vergessen haben“!

“Entschuldige Edgar, es ist so…“
“Nein wirklich, das kann man nicht so einfach entschuldigen. Du hast vollkommen recht, die Leute ändern sich“!

Edgar? Er hat Sie Edgar genannt! Aber Sie heissen gar nicht Edgar! Er hat Sie mit jemandem verwechselt. Auch er hat keine Ahnung, mit wem er eigentlich spricht. Besser diese leidige Situation schnell zu beenden. Vorteil daraus schlagen, dass er sich in der Defensive befindet. Auf die Uhr gucken und ein bedauerndes Gesicht ziehen:
“Ich muss gehen. War richtig nett, Dich wieder zu sehen, hörst Du“?
“Danke, Edgar. Und bitte entschuldige“!
“Ach was! Wir sollten uns öfter mal sehen“.
“Richtig“.
“Den alten Verein wieder mal um uns versammeln“.
“Natürlich“.
“Und wenn Du mal wieder mit Ritinha und Manuca sprichst…“

“Bituca“.
“Richtig, dem Bituca – sag ihnen, dass ich sie herzlich grüssen lasse.
Wiedersehen, Alter“!
“Wiedersehen, Edgar“!

Und nachdem er sich zum Gehen gewendet hat, hören Sie noch, wie er zufrieden vor sich hin murmelt: “Ja, der gute, alte Edgar“! Aber bei sich schwören Sie, dass Ihnen niemals mehr eine solche Peinlichkeit passieren wird – denn wenn noch einmal jemand Sie anspräche mit “kennen Sie mich wieder“? – dann antworten Sie ihm überhaupt nicht und rennen einfach weg.

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