Lieber Silvio

Zuletzt bearbeitet: 29. Oktober 2013

Der peinliche Brief einer verlassenen Mutter an den verantwortungslosen Vater – und die couragierte Haltung der abgelehnten Tochter.

„Lieber Sílvio
Es ist mir äusserst peinlich, dir diesen Brief schicken zu müssen. Sicher wäre es besser, wenn wir über dieses Thema persönlich miteinander sprechen könnten, aber in deiner offensichtlichen Absicht, möglichst Abstand von mir zu halten, würdest du wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte von dem anhören, was ich dir zu sagen habe.

Und denke nicht: jetzt fängt sie schon wieder damit an, denn in Wirklichkeit habe ich weder etwas angefangen noch etwas beendet, aber es gibt eine Situation, vor der man nicht davonlaufen kann. Und es ist nicht wichtig, was zwischen uns war – ob das wichtig für mich war oder für dich, für uns beide oder für keinen von beiden. Ist schon solange her, dass es niemanden mehr interessiert. Aber – was übrig geblieben ist, ist ein Kind. Egal, ob du es nicht wolltest, egal, ob ich es mir wünschte – ich, die Eigensinnige, dumme, Komplizierte und alle die unzähligen Adjektive mehr, die du mir damals an den Kopf geworfen hast. Ist auch nicht wichtig, dass ich mich damals so einsam fühlte, und dass dies mit meinen vierzig Jahren wahrscheinlich meine letzte Chance war, Mutter zu werden. Und noch viel weniger wird es dich interessieren, dass ich mir jemanden wünschte, nur für mich – um mich ihm zu widmen, um die Leere auszufüllen, die mich immer nach diesen Treffen mit Gelegenheits–Liebhabern angähnte – oder, wie wichtig ich mich fühlte, dass ich dieses so hübsche Kind ins Leben bringen durfte.

Ein Kind, das heute schon ein junges Mädchen ist, schön und intelligent. Sie ist unsere Tochter. Nicht allein die Tochter der LUCIVÂNIA – meine Tochter, auf die ich sehr stolz bin, und die ich über alles auf dieser Welt liebe – sondern auch die Tochter von SÍLVIO. Während all dieser vergangenen Jahre habe ich SILVANA alleine durchgebracht und erzogen. Glaub nur nicht, dass dies leicht für mich war! Unzählige Nächte, die ich in mein Kissen geweint habe, wegen der schweren Aufgabe, die ich mir auferlege. Aber die Liebe und die Zärtlichkeit meiner Tochter, ihr Vertrauen in mich, gaben mir stets die Kraft, weiterzumachen. Und da du mit diesen Problemen nichts zutun haben wolltest, hattest du auch keinen Anteil an den Freuden, die dieses Kind nicht nur mir sondern uns beiden hätte bereiten können – du wolltest nichts von ihm wissen. Hast seine Zuneigung verpasst, seine Entwicklung versäumt, seine vielen Fragen nie beantwortet. Hin und wieder habe ich dich aufgesucht, erinnerst du dich? Niemals habe ich etwas verlangt oder dich um finanzielle Hilfe gebeten. Immer wenn ich konnte, wollte ich lediglich deine Präsenz als Vater, deine Zuneigung für deine Tochter: anlässlich ihrer Einschulung, ihrer ersten Präsentation im Ballett, zu den Festlichkeiten des Gymnasiums am Jahresende, wo sie verschiedene Medaillen erhielt – immer habe ich dich dazu eingeladen. Weisst du noch, wie ich dich anrief und dir voller Stolz von jenem Preis berichtete, den SILVANA von einer regionalen Zeitung erhalten? Und, obwohl sie selbst dich zum ersten Mal persönlich anrief und dich um deine Gegenwart bat, hattest du nur Ausreden! Und die vielen Geburtstage! Stets fragte mich das Kind schon frühmorgens nach dem Aufwachen: „In diesem Jahr kommt mein Vater – nicht wahr?“ Mir blieb dann immer die Stimme im Halse stecken, weil ich die Antwort schon kannte. Ich wurde es leid, Reisen zu erfinden, Krankheiten, Auslandsarbeit, um Dein konstantes Fehlen zu entschuldigen. In allen Fällen hast du versagt, abgelehnt, bist geflohen. Ich fühlte mich lästig, ein unangenehmes Gewicht für dich, ein Problem, das du aus deinem Leben zu streichen gewillt warst.

Und dann begann ich mehr an mich zu denken: an deine Ablehnung meiner Person und die Ablehnung unserer gemeinsamen Tochter. Ich entschloss mich, dich nie mehr zu behelligen – auch SILVANA würde dich nicht brauchen, denn Liebe bekam sie im Überfluss und der Rest, dafür würde ich auch sorgen. Ich dachte sogar daran, ihr zu sagen, dass du bei einem Unfall ums Leben gekommen bist – aber eine Psychologin riet mir von dieser Lüge ab. Ich verurteile dich nicht. Dies ist nicht der Grund dieses Briefes. du wirst deine Gründe gehabt haben, deine Ängste, deinen Egoismus. Vielleicht hast du sogar an sie gedacht – als die Tochter von LUCIVÂNIA – hast vergessen, dass sie nicht aus einer meiner „Abschnürungen“ entstanden ist, wie eine Amöbe, ohne Beteiligung eines männlichen Teils. Vielleicht, weil ich weder mit einer Abtreibung einverstanden, noch Dein Geld für eine solche angenommen, fühlst du dich heute frei von jeder Verantwortung für LUCIVÂNIAS Tochter – eine unangenehme Situation, ein lästiges Übel, mit dem du nichts zu tun haben willst&. Wenn sie nicht abgetrieben hat – vielleicht denkst du so – dann ist das ihr Schlamassel! Ich habe es geschafft, mit Hilfe von guten Freunden – wie zum Beispiel meinem Schwager – die männliche Figur, die im Leben von SILVANA gefehlt hat, zu ersetzen. Und ich habe geglaubt, dass ich auch dies endlich geschafft habe. Stets hat sie mir viel Freude gemacht, und ich kann sehr stolz auf sie sein: ein lernbegieriges Mädchen war sie schon immer, besessen davon, die besten Noten nach Hause zu bringen, immer vergnügt – und deshalb habe ich gemeint, sie sei glücklich. Aber Tatsache ist, SÍLVIO, dass dieses Mädchen von zwölf Jahren denkt, fühlt, träumt und leidet. Sie hat nicht die Passivität ihrer Mutter – auch nicht deren Selbstlosigkeit. Vielleicht ist sie mehr nach ihrem Vater geraten, mit ihrem Streben die Dinge des Lebens zu erobern – ich weiss es nicht. Aber ich hoffe, dass sie niemals ihre Mitmenschen überfahren, noch ihre Gefühle verletzen wird, um ihre Ziele zu erreichen. Und, dass sie sich niemals aus ihrer Verantwortung stehlen wird oder versucht, ihre Fehler auf andere Personen abzuwälzen.

SÍLVIO, du bist intelligent und hast selbst schon mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet. Wie konntest du vergessen, dass Kinder heranwachsen und, dass Jugendliche anfangen zu denken? Mir selbst wurde das erst richtig bewusst, als meine Tochter mit Forderungen anfing – keine materiellen – keine neue Handtasche oder ein schöneres Kleid. Keinen Ausflug nach Disneyland oder Eintrittskarten zum Karneval. Auch keine Bücher oder einen Computer – das wären ja verständliche Wünsche, und sogar notwendige, für ihre Position unter ihren Mitschülerinnen. Nichts dergleichen – sie forderte vielmehr von mir eine Stellungnahme in Bezug auf dich, SÍLVIO! Sie sagt, dass ich ihr das schuldig bin.

Mit einer Niedergeschlagenheit, die ich ihrem Kinderherzen nicht zugetraut hätte, erzählte sie mir von ihrem Schmerz darüber, dass du nie dagewesen für eine Umarmung – erzählte mir, dass sie ihr Leben lang den Vater vermisst habe, der sie ins Kino oder zu einem Eis begleitet hätte, oder zum Shopping. Erzählte mir, wie peinlich es ihr sei, immer einen Ersatz–Vater in Anspruch nehmen zu müssen, wie zum Beispiel jetzt zu ihrer Kommunion – obwohl doch ihr eigener Vater lebte. Und sie sprach auch von der Leere, die sie verspüre, wenn sie bei den Feiern zum Podium hochklettere, ohne die führende Hand und die Umarmung des Vaters, der sie motiviere. Vertraute mir an, dass sie sich so anstrenge in der Hoffnung, dass ihr Vater eines Tages auftauche und sie ihm sagen könnte: „Sieh mal, Papa, ich bin die Erste in meiner Klasse. Ich verdiene deine Liebe wirklich. Niemals werde ich dir Schande machen. du kannst stolz sein auf deine Tochter!“ Und dann hat sie mich gefragt, ob du damals schon verheiratet gewesen, als sie geboren wurde. Und hat nicht verstanden, warum du – damals noch unverheiratet und nicht mal mit deiner heutigen Frau bekannt – ihr später vor der Heirat nicht erzählt hast, dass du eine Tochter hast?

SÍLVIO – unsere Tochter besucht dasselbe Gymnasium wie deine beiden kleinen Söhne – aber SILVANA war schon dort, als sie eingeschult wurden – ich habe diese Situation nicht arrangiert. du hättest dich informieren müssen, in welche Schule SILVANA geht, aber nicht einmal das hat dich je interessiert. Vor ein paar Tagen ist Dein kleiner Junge hingefallen, auf dem Schulhof, und hat sich verletzt. SILVANA hat sich um ihn gekümmert und ihn verbunden, und als dann deine Frau aufgetaucht ist und ihren Jungen in SILVANAS Schoss vorgefunden hat, gab sie ihr eine Tafel Schokolade. du machst dir keinen Begriff, wie SILVANA an diesem Tag geweint hat, weil sie dem kleinen Jungen nicht sagen konnte, dass sie seine Schwester sei und immer da wäre, um ihn zu beschützen – und, dass sie keine Schokolade brauche sonder sich nur Liebe und Zuneigung wünsche.

Jeden Tag, während der Pausen, sucht nun Dein Sohn unsere Tochter auf, und die beiden spielen miteinander – auch Dein Kleinster hat sich an SILVANA gehängt, und sie leidet, weil sie ihnen nicht die Wahrheit erzählen kann und sie als Schwester umarmen darf. deine Frau hat SILVANA dann letzten Samstag zum Geburtstag deines Sohnes eingeladen. Sie hat die ganze Nacht geweint, weil sie verstand, dass sie nicht gehen durfte, um dir keine Peinlichkeiten zu bereiten, und damit du nicht denken solltest, dass sie nunmehr dazu übergegangen sei, dich vor deiner Familie zu beschämen. Als Dein Sohn merkte, dass sie nicht kommen würde, hat er sie angerufen, aber SILVANA behauptete, sich eine Grippe eingefangen zu haben, was ihre verweinte Stimme auch glaubhaft unterstrich. Auch deine Frau hat dann noch mit ihr gesprochen, denn Dein SILVINHO wollte die Torte nicht ohne seine neue Freundin anschneiden. All das geschieht, und niemand weiss, wer sie ist…

…du selbst hast vielleicht von dieser Geschichte erfahren, aber weisst nicht, das jene neue Freundin deines Sohnes deine eigene Tochter ist – oder vielmehr, die Tochter von LUCIVÂNIA . . . also gut, SÍLVIO, sie verlangt nun von mir, dass ich einen Vaterschafts–Prozess gegen dich in die Wege leite! Sie liest, SÍLVIO, sie sieht TV und kennt ihre gesetzlichen Rechte. Und sie will deinen Namen auf ihrer Geburtsurkunde! Das lässt sie sich nicht ausreden Sie will, dass die Welt erfahren soll, dass sie deine Tochter ist. Ich habe versucht, ihr das auszureden – habe ihr erklärt, dass sie das nicht nötig habe und besonders nicht von dir – aber sie ist da vollkommen unzugänglich. Ich argumentierte, dass ich deine Reaktion fürchte, denn du hättest sie ihr Leben lang abgelehnt und würdest diese Haltung wahrscheinlich nicht ändern, was nur noch mehr Leid für sie bedeutete. Sie gab zurück, dass Gesetze dafür da seien, um befolgt zu werden (als ob eine Rechtsanwältin spräche), und dass sie von dir bisher nur deine Liebe gewollt habe – aber das hättest du ihr nicht gegönnt. Deshalb sei sie nunmehr entschlossen, das Gesetz auf dich anzuwenden. Und wenn ich nicht diesen Prozess für sie eröffnen wolle, wäre dies das erste, was sie mit Vollendung ihres achtzehnten Lebensjahres in Angriff nehmen wolle. Und damit hat sie mich überzeugt, denn ich möchte mir nicht vorstellen, welchen psychologischen Schaden dieses Leid in ihr anzurichten imstande ist, bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr!

Niemals wollte ich sowas! du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass ich niemals einen solchen Schritt tun würde. Aber, wie ich schon sagte, sie hat nicht meinen Konformismus und meine Zurückhaltung geerbt. Kann nur von dir kommen. Und jetzt ist es Dein Schlamassel.

Ich selbst werde meinen Teil stets für sie tun und fortfahren, meine Rolle als Mutter und Versorgerin zu erfüllen. Aber ich weiss auch, wie lästig, und vor allem peinlich, ein solcher Prozess sein kann. Deshalb schreibe ich dir diesen Brief. Kann ja sein, dass wir diese Situation auch ohne einen Gerichtsprozess lösen können? Sogar den DNA–Test kann man, wenn nötig, ohne das Gericht machen. Aber es muss etwas geschehen – nicht LUCIVÂNIA ist es, die dir jetzt Probleme macht, sondern deine Tochter, die eine gesetzliche Klärung deiner Vaterschaft verlangt! Es tut mir wirklich leid, SÍLVIO, dass es nun soweit gekommen ist! Ein Telefonanruf, an den Geburtstagen, hätte genügt – eine Umarmung anlässlich ihrer Preise, die sie bekommen, irgendeine Anerkennung – sogar ein bisschen Schokolade an Weihnachten. Sie hat nie mehr gewollt, nie mehr gebraucht. Aber du hast dich einfach in Luft aufgelöst – und sie ist gewachsen. Und jetzt denkt sie, und verlangt. Und weiss, dass sie im Recht ist. Nicht ich! Mir wäre es am liebsten gewesen, wenn sich gar nichts geändert hätte.

Einen Gruss, SÍLVIO, und ich erwarte deine Stellungnahme.
LUCIVÂNIA“

„SILVANAS“ Geburtsregister wurde auf Antrag ihres Vaters entsprechend geändert, nachdem ihre Mutter ihm einen Brief geschrieben hatte, der diesem sehr ähnlich ist. Von da an telefonierte er öfter mit seiner Tochter und überhäufte sie mit Geschenken an ihren Geburtstagen. Aber er stellte sie weder seinen Söhnen noch seiner Ehefrau vor, wie sie es erwartet hatte. Und er liess sich auch nicht mit ihr in der Öffentlichkeit sehen. Anfänglich liess es seine Tochter, ausser sich vor Freude über den endlich gewonnenen Vater, dabei bewenden. Aber je älter sie wurde, umso klarer begriff sie, dass sie lediglich einen „erbettelten Vater“ hatte – wie sie mir einmal sagte.

Nachdem sie das Resultat der Aufnahmeprüfung zur Universität in Händen hielt – wo sie an der Spitze, auf dem ersten Platz, angenommen worden war – galt SILVANAS erster Gedanke ihrem Vater, um ihm das tolle Ergebnis mitzuteilen. Am Handy meldete sich seine Ehefrau, und SILVANA, ohne nachzudenken, sagte, sie sei seine Tochter und habe ihm eine frohe Botschaft zu überbringen. Ihr Vater ging dran und schrie ins Telefon, ob sie wohl verrückt sei, sich als seine Tochter auszugeben: „Scher dich zum Teufel, dumme Tunte, ich habe keine Tochter!“ und legte auf. In derselben Nacht schluckte SILVANA dreissig Tabletten Lexotan – ihr Selbstmord misslang, weil man sie rechtzeitig entdeckte und ihren Magen auspumpte.

Danach wollte sie nichts mehr von ihrem Vater wissen – auch von der Fakultät der Rechtswissenschaften, die sie belegt hatte, um ihrem Vater zu gefallen, zog sie sich zurück. Im folgenden Jahr bestand sie die Aufnahmeprüfung für Medizin – als drittbeste ihrer Klasse – an derselben Universität. SÍLVIO rief sie an, um sie zu beglückwünschen und sie sagte: „Scheren Sie sich zum Teufel, Sie Verrückter! Mein Vater ist schon vor meiner Geburt gestorben“

SILVANA befindet sich gegenwärtig im achten Semester ihres Medizinstudiums an der Universität von Rio de Janeiro.

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AutorIn: Klaus D. Günther

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