Gevatter Tod

Zuletzt bearbeitet: 29. Oktober 2013

Es war einmal ein Mann, der hatte so viele Kinder, dass er grosse Mühe hatte, für alle einen Paten zu finden. Und als ihm schliesslich noch ein Söhnchen geboren wurde, machte er sich wieder auf, um jemanden aufzutreiben, der für ihn die Patenschaft übernähme. Nach langem Suchen begegnete er dem Tod und lud ihn ein, Pate seines Sohnes zu werden. Der Tod willigte ein.

Nach der Taufe begab sich die Taufgesellschaft ins Haus des Vaters – der Pate nahm ihn beiseite und sprach: “Ich möchte meinem Patenkind ein Geschenk machen, und ich denke, da ist es am besten, wenn ich seinen Vater mit den nötigen Mitteln versehe, ihm ein sorgenfreies Leben zu bieten. Von heute an mache ich dich zu einem Arzt, dessen Diagnose unfehlbar sein wird – du wirst eine  Berühmtheit auf deinem Gebiet werden, und deiner Familie wird es an nichts fehlen. Jedes Mal, wenn du einen Krankenbesuch machst, werde ich ebenfalls anwesend sein. Wenn ich am Kopfende des Kranken sitze, kannst du ihm sogar pures Wasser verschreiben – er wird wieder gesund. Sitze ich dagegen am Fussende seines Bettes, brauchst du nichts mehr zu tun – dann ist er ein verlorener Fall“.

Und so geschah es. Der Mann brachte ein Schild vor dem Haus an, auf dem er sich als Arzt auswies – und er wurde reich, fast über Nacht, denn er stellte stets eine sichere Diagnose und irrte niemals. Kaum hatte er sich einen Kranken angesehen, sagte er nur: “Der kommt davon“! Oder: “Besorgt diesem einen Sarg“!

Wen er behandelte, wurde wieder gesund. Bald schwamm er im Geld. Schliesslich wurde der Sohn des Königs krank, und dieser schickte nach dem berühmten Arzt. Für das Leben seines Sohnes bot er ihm riesige Ländereien. Als der Mann sich den jungen Prinzen ansah, sah er den Tod zu seinen Füssen sitzen, aber weil er nicht gewillt war, seinen Ruf zu verlieren, entschloss er sich zu einem Trick und befahl, dass die Diener das Bett mit dem Königsohn umdrehen sollten. Und der Tod, ziemlich verärgert durch die List seines Gevatters, murmelte ein paar unflätige Worte und verliess die Stätte. Der Prinz wurde gesund.

Eines Tages sass der berühmte Arzt vor seinem Mikroskop, als der Pate seines jüngsten Sohnes bei ihm erschien und ihn einlud, ihn zu besuchen.

“Ich werde kommen“, sagte der Arzt, “wenn du schwörst, dass ich unversehrt nach Hause zurück komme“. “Ich verspreche es“, sagte der Tod. Und dann nahm er den Mann auf einem Blitzstrahl mit in seine Wohnung.

Er behandelte seinen Gast mit grosser Höflichkeit und zeigte ihm alle Räume. Der Arzt verwunderte sich vor allem über einen riesigen Saal, voll gestopft mit brennenden Kerzen aller Grössen – einige waren kurz vor dem Erlöschen, andere flackerten stark, wieder andere hatten eine ruhige, hohe Flamme. Er fragte den Tod nach der Bedeutung dieser Kerzen und hörte, dass es sich um die Lebenslichter der Menschheit handele. “Jeder Mensch hat ein solches Licht – wenn es verlöscht, stirbt er“. Natürlich wollte er wissen, wie es um sein eigenes Lebenslicht bestellt sei – da zeigte ihm der Tod einen Kerzenstummel dessen Flamme bedenklich flackerte.

“Heilige Jungfrau Maria“, rief der Arzt erschrocken aus, “das da ist meine? Also bin ich schon fast tot“?

Der Tod antwortete: “Deine Stunden sind gezählt, deshalb habe ich dich hierher gebracht, als dein Freund. Aber du hast mir das Versprechen abgenommen, dich unversehrt zu lassen, also bringe ich dich jetzt wieder in dein Haus, damit du dort in Frieden sterben kannst.

Und als der Arzt wieder zu sich kam, lag er in seinem gewohnten Bett, umgeben von seiner besorgten Familie. Er sah den Tod an seinem Fussende sitzen und bat ihn: d“Gevatter, bitte lass mich ein letztes Vaterunser beten, bevor du mich mitnimmst! Schwörst du es“? Und der Tod nickte.

Der Mann begann also mit dem Gebet: “Vater unser, der du bist im Himmel . .“ und schwieg dann plötzlich still. Der Tod räusperte sich und sagte: “Nun mach schon, sprich den Rest des Gebets“!

“Nein, das werde ich nicht tun, Gevatter! Du hast geschworen, mir Zeit für das Gebet zu geben – aber ich habe nicht gesagt, wie lange mein Gebet dauern wird – nämlich noch viele, viele Jahre“! Und der Tod musste sich wohl oder übel ein zweites Mal geschlagen geben – die List dieses Mannes hatte ihn wieder besiegt.

Viele Jahre später. Der Arzt war inzwischen zu einem geschrumpften Männlein gealtert, welches nur noch aus Falten zu bestehen schien. Auf die Schultern seiner längst erwachsenen Kinder gestützt, liess er den getrübten Blick über seinen weiten Besitz schweifen, als er bemerkte, dass wilde Tiere durch den Zaun in den gepflegten Garten eingedrungen und alle Blumen zertrampelt hatten. Zornig rief er aus:

“Da wollte ich doch lieber sterben, als so eine Zerstörung mit ansehen zu müssen“! Und kaum hatte er seinen Mund wieder zu gemacht, als der Tod herab fuhr und ihn davontrug.

Man kann den Tod zweimal überlisten, aber beim dritten Mal überlistet er uns.

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AutorIn: Klaus D. Günther

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