Die Bar

Zuletzt bearbeitet: 14. Oktober 2021

Eine Geschichte aus der Welt des Fussballs

Wieder so ein Sonntag, an dem nichts los war. So einer, an dem noch weniger geschah als an anderen Sonntagen in diesem verelendeten Teil der Vorstadt, an der Peripherie der Metropole São Paulo. Auch in dem “Boteco“ – so nennt man bei uns jene zur Strasse hin offenen Ausschankdielen, die in keinem brasilianischen Strassenbild fehlen – war nichts Besonderes los, ein Boteco wie jedes andere: nicht besonders sauber, eher ziemlich speckig.

Die Bar – Foto: djedj auf Pixaba

Die Kühltheke stammte noch von einer ehemaligen Metzgerei, durch das an mehreren Stellen gesprungene, und vom Zahn der Zeit trüb gewordene Glas konnte man ein paar Bierflaschen erkennen. Auf der Theke die notorische, fleckigweisse Plastkauflage, an der Wand, neben einem Regal voll bunter Flaschen ein riesiges Plakat vom Palmeiras, Champion von São Paulo 1996 und, auf einem anderen Wandregal daneben, ein paar matt glänzende Trophäen vom Ameriquinha, dem Team des Stadtteils.

Zehn oder zwölf Kunden – alles Bewohner der Peripherie – lehnten an der Theke oder hatten sich auf den von einer Bierfabrik gespendeten Plastikstühlen niedergelassen. Die einen kippten ein paar “Branquinhas“ (Weisse – Schnaps aus Zuckerrohr), die andern bevorzugten die “Louras“ (Blonde – Schoppen Bier) – Gesprächsstoff war wie immer: Fussball!

An dem Tisch in der Ecke sass, wie immer am Sonntag, Seu Rafael, ein pensionierter Herr von zirka sechzig Jahren mit einem etwas müden Gesichtsausdruck, in einem dunkelblauen Sweater, der schon einmal bessere Tage gesehen hatte. Im Boteco am Sonntag hing er seinen Träumen aus vergangenen Tagen nach, während sich der Schaum im Glas langsam setzte. Er war stets umgeben von “seinem Publikum“ – ein paar aus dem Gleichgewicht geratenen Existenzen, die sich über seine tollen Geschichten amüsierten, wenn er in Fahrt kam, ihnen aber keinen Glauben schenkten, denn sie schienen ihnen zu phantastisch: Stets handelten sie von seiner Karriere als Fussballstar, die er mit siebzehn beim Jugendclub vom Corinthians begonnen hatte – innerhalb kurzer Zeit galt er als vielversprechendes Talent und wurde zur Übernahme ins Profi-Team vorgeschlagen. Seu Rafael pflegte seine Geschichten mit ein paar Schilderungen von Partien zu würzen, in denen er Hauptdarsteller gewesen war.

Seine Zuhörer brachen dann regelmässig in brüllendes Gelächter aus über das, was sie “das Delirium des alten Rafael“ nannten – und manchmal war auch einer unter ihnen, der sich nicht zurückhalten konnte und ihn ganz ungeniert einen “alten Lügner“ nannte.

“Warum bist du dann kein Profi geworden, alter Mann“? insistierte ein anderer grinsend und wischte sich den Bierschaum vom Mund.

“Der Alkohol. Die Trinkerei war mein Untergang“ – entgegnete Seu Rafael mit bedrückter Stimme und nahm einen langen Zug aus seinem Glas.

Aber seine Antwort überzeugte niemanden. Und sie fuhren fort, ihn aufzuziehen und mit ihren Anwürfen zu traktieren. Er war es gewöhnt – das war sein Publikum an den Sonntagen seiner illusionslosen Einsamkeit, und er nahm es ihnen auch nicht weiter übel. So ist das eben, wenn einem die Zeit davongelaufen ist. Ein paar gewinnen, andere fallen in das grosse Loch der Vergessenheit.

An jenem Sonntag, an dem sonst weiter nichts los war, in dem Boteco wie jedes andere auch, umgeben von irgendwelchen Leuten wie immer, braute sich etwas zusammen. Es fing damit an, dass plötzlich die Blicke sämtlicher Anwesenden von einer schwarzen, importierten Limousine angezogen wurden, die auf der gegenüber liegenden Strassenseite einparkte. Heraus stieg ein vornehm gekleideter Mann mittleren Alters, der die Strasse überquerte und zielstrebig auf ihr Boteco zusteuerte. Als er dann die Schwelle überquerte, blieb doch tatsächlich ein paar der eben noch grölenden Kerle die Spucke weg – mit offenem Mund starrten sie den Fremden im dunkelblauen Dinnerjacket an, als ob sie einen Geist sähen – schlagartige Stille breitete sich aus im Raum.

“Einen guten Tag wünsche ich euch, Leute – kann mir einer sagen, wo ich den Rafael Arruda finde“? – der unerwartete Gast sah sich forschend um in seiner näheren, rauchgeschwängerten Umgebung – die vorher lautesten Schreier glichen auf einmal einem Haufen autistischer Kinder. Endlich löste sich einer von der Theke und deutete zu dem wackligen Tisch hin, an dem der alte Seu Rafael sass. Der Fremde schien bewegt – “hab ich dich endlich gefunden! Ich möchte dich einladen, mit mir in der Fussballschule vom Corinthians Jugendliche auszubilden“ – alle konnten sie jetzt deutlich die Emotion in der Stimme des Fremden heraushören – einer entdeckte den roten Anker mit den fünf goldenen Sternen auf seiner schwarz-weiss gestreiften Krawatte, die Schreier flüsterten plötzlich miteinander wie alte Weiber.

Nächster Akt: Die feste und unglaublich lange währende Umarmung der beiden Männer. Diejenigen, welche der Szene am nächsten platziert waren, schworen später Stein und Bein, dass sie Tränen gesehen hätten, die beiden aus den Augen quollen.

“He, Leute, ich bin euch zu Dank verpflichtet! Diesen Kerl hier“ – und dabei drückte er den alten Rafa doch tatsächlich an seine Brust – “hab ich jahrelang gesucht, hab Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihn endlich zu finden, denn er war tatsächlich ein Crack – wäre stolz, wenn ich je so gut gespielt hätte wie er, er hatte das Zeug zum Champion! Und jetzt geb’ ich einen aus“ – womit er das Eis gebrochen hatte: Jetzt redeten wieder alle durcheinander, umdrängten den Fremden, der den alten Rafa scheinbar nicht mehr loslassen wollte – hatte seinen Arm um ihn gelegt und prostete ihm zu. Plötzlich wollten sie alle “ihrem Rafa“ auf die Schultern klopfen – und ihr Lächeln hatte jetzt etwas Respektvolles.

Als die beiden Freunde, die sich endlich wiedergefunden hatten, schliesslich Arm in Arm über die Strasse zur schwarzen Limousine schritten, folgte ihnen der ganze Tross aufgeregt schwatzend. Die beiden stiegen ein – jetzt konnte Jorge von der Apotheke, ein fanatischer Corinthians-Anhänger, nicht mehr länger widerstehen – was alle in diesem Moment bewegte, brachte er auf den Punkt: “Rafa Rivelino, mein Held, bitte gib mir ein Autogramm! Kannst es gleich hier auf mein Hemd schreiben“ – und der etwas beleibte Apotheker kniete doch tatsächlich neben der offenen Wagentür nieder auf dem heissen Asphalt, beugte seinen Rücken mit dem Clubtrikot vom Corinthians, welches er sonntags stets zu tragen pflegte, und Rafael setzte seine Unterschrift so gekonnt mit einem Filzstift zwischen seine Schultern auf einen der weissen Querstreifen, als hätte er sein Lebtag nichts anderes getan. Dann schlug die Tür zu, der Chauffeur gab Gas – und die Schreier aus dem Boteco winkten doch tatsächlich hinter dem Wagen her, der jenen Sonntag, an dem wie immer nichts los zu sein schien, in einen der denkwürdigsten Tage jenes Vorstadtviertels verwandelt hatte.

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AutorIn: Klaus D. Günther

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