Der Junge mit der Blume

Zuletzt bearbeitet: 2. Januar 2013

Der Parkplatz war leer, als ich mich zum Lesen auf einer Bank unter den weit ausladenden Ästen eines uralten Mangobaums niederliess – das Leben hatte mir nichts mehr zu bieten, Grund genug, meinen Tränen freien Lauf zu lassen, die Welt hatte meinen Untergang beschlossen, dessen war ich gewiss.

Und als ob meine trüben Gedanken mich nicht genug beschäftigten, pflanzte sich auch noch ein schwitzender kleiner Junge vor mir auf, offensichtlich des Spielens müde. Den Kopf leicht gesenkt, sprach er mich mit einer Stimme voller Enthusiasmus an:

“Schau mal, was ich gefunden habe“!

Auf seiner geöffneten Handfläche lag eine kleine Blume – ein trauriger Anblick – die Blütenblätter fielen schon aus, offensichtlich fehlte ihr Wasser oder Licht. Um den kleinen Kerl mit seiner Blume loszuwerden, setzte ich ein fingiertes Lächeln auf und drehte mich zur anderen Seite. Aber anstatt abzuhauen, setzte er sich neben mich auf die Bank, roch dann an der Blume und sagte mit einer gewissen Überraschung in der Stimme: “Ihr Geruch ist wunderbar – und sie ist schön . . . deshalb hab’ ich sie gepflückt. Und jetzt gehört sie Ihnen“!

Die Blume in seiner mir entgegengestreckten Hand war bereits tot oder am Absterben – ihre einst lebendigen Farben hatten ihre Ausstrahlung längst verloren – aber ich wusste, dass ich sie annehmen musste, sonst würde ich den Jungen nie loswerden. Also streckte ich mich, um das lädierte Geschenk in Empfang zu nehmen und sagte:

“Das genau war’s, was ich zu meinem Glück noch gebraucht habe“!

Aber anstatt sie nun in meine Hand zu legen, hielt der Junge die Blume nur hoch in die Luft – und in diesem Moment entdeckte ich, dass er blind war, dass er gar nicht sehen konnte, was er da in der Hand hielt. Meine Stimme erstickte – in meinen Tränen verschwamm die Sonne, während ich ihm dankte, dass er die schönste Blume des Gartens für mich ausgesucht hatte.

“Oh, gern geschehen“ – lachte er, und dann rannte er davon ohne zu bemerken, welchen Schock er mir an diesem trüben Tag versetzt hatte.

Ich lehnte mich zurück und grübelte darüber nach, wie er wohl einen im Selbstmitleid sich verzehrenden Mann auf einer Bank unter dem Mangobaum gesehen haben konnte? Wie konnte er von meinem Leid wissen? Ob er vielleicht in seinem Herzen mit einer besonderen Einsicht begabt war?

Durch die Augen eines blinden Kindes habe ich schliesslich verstanden, dass mein Problem nicht die Welt sondern ich selbst war! Und ich dankte Gott für alle Momente meiner eigenen Blindheit – und, dass ich jetzt plötzlich wieder die Schönheiten des Lebens schauen durfte – im Genuss jeder einzelnen Sekunde, die nur mir gehörte. Dann führte ich jene traurige, abgestorbene Blume zu meiner Nase und spürte den Duft einer herrlichen Rose. Mit einem hoffnungsfrohen Lächeln erhob ich mich und sah jenen blinden kleinen Jungen mit einer anderen Blume in seiner Hand, bereit, wieder Licht in das Leben eines unverdächtigen älteren Herrn zu bringen.

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