Der Flug des Kolibris

Zuletzt bearbeitet: 6. April 2021

Sie hatten schon immer von einem Häuschen auf dem Lande geträumt. Mit einer Veranda, so gross wie ihre Sehnsucht nach Freiheit – und mit Fenstern, die nach allen Seiten hin grossartige Landschaftsbilder rahmten. Das Aufwachen würde ein Akt der Liebe zur Natur werden. Das Schlafengehen ein Sich–Hingeben in die alles erfüllende Melodie des Waldes, unter dem Kuss der Nacht, in Harmonie mit der Liebe und dem Lächeln der Glückseligkeit.

Der Flug des Kolibri – Foto: Klaus D. Günther

Ein Leben lang hatten sie davon geträumt. Ein Leben lang hatten sie gearbeitet und jetzt, mit ihren erwachsenen und verheirateten Kindern, konnten sie endlich ihren Traum verwirklichen: sie zogen um in ein kleines Häuschen am Fuss des Gebirges, das ihre Stadt umgab, wo die reine Luft klarer Morgen sie entzückte. Das Haus war umstanden von einem Obstgarten, der besonders die Vögel aus der Umgegend magisch anzog. Sie zwitscherten vergnügt, wenn sie die jeweiligen Früchte der Saison kosteten, die schliesslich überreif auf den Boden fielen, dort unter den Strahlen der Mittagssonne ein wahres Bankett für Ameisen und andere Insekten boten, welche ihre Kerne freilegten, damit der Zyklus des Lebens sich mit ihrem Keimen in der fruchtbaren Erde fortsetzen könne.

Im Hintergrund des Anwesens leuchtete ein schmales Flüsschen, das sich zu einem kleinen See verbreiterte. In seiner sanften Strömung schwammen allerlei grosse und kleine Fische umher, deren unschuldige Anmut von keinem Netz oder Haken je gestört, sie ohne Scheu herbei schwimmen liess, wenn man nur die Hand ins kühle Wasser tauchte.

In den mondhellen Nächten spiegelte sich das milchige Licht geheimnisvoll im Spiegel des Sees. Und vom nahen Wald schwebte eine nächtliche Melodie herüber, wie sie nur die Natur, ihre Insekten, ihre Amphibien und ihre Nachtvögel zu intonieren verstehen – und die nur von Liebenden und solchen Menschen gehört wird, deren Seele noch nicht von der Gier nach Macht, Ruhm und Reichtum verschüttet worden ist.

In ihren Schaukelstühlen, deren Schilfrohr–Besatz von der geschickten Hand eines Bauern aus der Nachbarschaft geflochten, sassen sie plaudernd auf der Veranda, als sie zwei Kolibris bemerkten, die sich auf einem Zweig des blühenden Orangenbäumchens niedergelassen hatten – und es war ihnen als ob für sie die Zeit einen Moment still stünde – dem Moment der Rast jener winzigen, bunten Kreaturen. Bewegungslos, wie unter einem Zauber, beobachteten sie dann die “Beija–Flores“ (Blumenküsser, wie sie in Brasilien genannt werden), wie sie ihre langen gebogenen Schnäbelchen in die Blüten versenkten, um an den süssen Nektar zu gelangen, wobei ihre kleinen Körper einen Moment bewegungslos in der Luft verharrten, stabilisiert von dem für das menschliche Auge unsichtbar schnellen Schwirren ihrer winzigen Flügel. Mit akrobatischen Sturzflügen forderten sie andauernd das Gesetz der Schwerkraft heraus – landeten für Sekunden auf einem Zweig, um dann plötzlich wie eine Pistolenkugel in die Unendlichkeit davon zu schiessen – während sich das Sonnenlicht auf ihrem schillernden Gefieder brach, wie in den Facetten eines Diamanten.

Dem alten Mann kam eine Idee. Er sattelte seinen Esel und liess sich von ihm in den kleinen Ort tragen, wo er eine typische “Mercearia rural“ (Gemischtwarenladen) betrat, in dem verschiedene Geräte für die Landwirtschaft – Hacken, Spaten, Giesskannen und verstaubte Aluminiumtöpfe an Drähten von der geschwärzten Decke hingen und die Beschaulichkeit ländlichen Friedens demonstrierten. Er kaufte einen durchsichtigen Plastikbehälter, mit einer Öse am oberen, und vier, mit bunten Plastikblumen umkränzten Saugröhrchen, am unteren Ende – eine Trinkvorrichtung für die Kolibris, die ihn so sehr beglückt hatten. Bevor er bezahlte, griff er sich noch zwei Erdnuss–Schokoladenriegel, die ihn an seine längst vergangene Kindheit erinnerten – und wie damals lutschte er die Schokolade herunter, bevor er die Nüsse mit seinen wenigen guten Zähnen geräuschvoll zermalmte, während er dem Ladenbesitzer die Münzen auf die abgewetzte Theke zählte.

Zu Hause angekommen, füllte er den Trinkbehälter mit klarem, frischen Wasser aus dem Brunnen, verrührte in ihm ein paar Löffel voll Zucker und Honig, und begab sich dann, mit seiner vor Glückseeligkeit strahlenden Frau, zu dem Feigenbaum, der, mit ein paar Metern Abstand, direkt vor ihrer Veranda aufragte. Dort zog er ein Stück Schnur durch die Öse des Behälters und hängte ihn, von der Veranda deutlich sichtbar, an einen Zweig – alle beide durchströmte das beglückende Gefühl der menschlichen Begegnung mit der Mutter Natur.

Kaum waren sie zur Veranda und ihren Schaukelstühlen zurück gekehrt, da hatten ihre bunt befiederten Schützlinge die süsse Quelle zwischen den Feigenbaumzweigen bereits entdeckt – offensichtlich entzückt von der süssen Mischung, steckten sie wieder und wieder ihre langen Schnäbel in die Saugröhrchen des Behälters und dankten ihren neuen Nachbarn mit den wundervollsten Pirouetten – während diese sich mit einem Glas Wein zuprosteten und sich an ihrem gelungenen Geschenk an die Natur erfreuten.

Am folgenden Tag, schon früh am Morgen, füllten sie erneut den Behälter mit jener süssen Mischung, die ihren kleinen Freunden so schmeckte, und den ganzen Tag waren sie erfüllt von einer Glückseeligkeit, die sich während der Beobachtung der Natur und ihrer Schönheit oft einstellt – in diesem Fall war es diese gewisse Intimität mit den “fliegenden Edelsteinen“, welche ihnen ein ganz besonderes Glücksgefühl schenkte.

Die Woche verflog schnell in dieser neuen, ihnen so kostbaren Freundschaft. Am Morgen des achten Tages legte sich dann die Tragödie wie ein dunkler Schleier auf die Gemüter des naturliebenden Paares: Zwischen den knorrigen Wurzeln des Feigenbaumes fanden sie ihre winzigen Freunde – schon leblos und starr, von Ameisen bereits angefressen – nur noch Nahrung für eine Reihe von Insekten und Würmern am Ende der Kette existenziellen Überlebenskampfes.

In ihrer von der städtischen Umwelt geprägten Unwissenheit hatten die beiden alten Leute die Kolibris durch ihre besondere Zuneigung umgebracht: ein Pilz hatte sich im Herzen der Plastikblumen, den Saugröhrchen entwickelt – schön grün, fast unsichtbar für den Menschen und für die kleinen Blumenküsser tödlich.

Und am Abend jenes folgenschweren Tages schien die Poesie der Natur geflohen, die Nacht senkte sich schwer wie Blei auf die bedrückten Gemüter und verdrängte den Frieden in den Augen eines Mannes und einer Frau durch tiefe Trauer. Sie hatten verstanden, dass das wunderbare Leben in der Natur einfach nur erlebt werden will – ohne Eingreifen – und diese Haltung macht uns Menschen rein und frei in ihren Augen.

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AutorIn: Klaus D. Günther

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