Beichtgeheimnisse

Zuletzt bearbeitet: 29. Dezember 2012

Der Bischof war vom Küster in die kleine Stadt gerufen worden – “ein Fall von äusserster Dringlichkeit“ hatte dieser in seinem Brief betont – und jetzt holte er den Bischof persönlich vom Bahnhof ab.

Was ist denn los, mein Sohn – was ist so dringend? – fragte ihn der Bischof, als er den Zug verliess.
Hochwürden werden sehen – antwortete der Küster nur und ergriff den Koffer des Bischofs.

Der Küster besass nur noch ein Auge, und mit dem blinzelte er andauernd und in kurzen Intervallen – vielleicht, weil er für zwei blinzeln musste. Er war ein magerer, griesgrämiger Mann.

Irgendein Problem mit Pater Anselmo? – fragte der Bischof.

Hochwürden werden sehen – sagte der Küster wieder und platzierte den Koffer des Bischofs auf den Gepäckträger des Taxis.

Es gab nur zwei von diesen Taxis in der kleinen Stadt – zwei alte Chevrolets. Dieser war als “der Grüne“ bekannt, um ihn vom “Schwarzen“ unterscheiden zu können. Sie fuhren ins Zentrum, bis vor die Stufen der antiken Barockkirche, die den Marktplatz krönte. Probleme mit dem Glauben gab es in der kleinen Stadt anscheinend keine, stellte der Bischof zufrieden fest, denn die Kirche war gerammelt voll, obwohl es nicht die Stunde der Messe war. Junge Leute waren da und alte Menschen. Ja es schien ihm, als ob die ganze Stadt in der Kirche versammelt sei. Und noch etwas fiel ihm auf, die Plätze in der Nähe des Beichtstuhls waren am dichtesten besetzt. Dort knieten die Leute vor ihren Bänken, obwohl noch genug Platz vor dem Altar gewesen wäre.

Sag mir nun endlich, was hier los ist, mein Sohn – hob der Bischof wieder an, jetzt schon etwas ungeduldiger durch die offensichtliche Zurückhaltung des Küsters, der während des gesamten Weges vom Bahnhof bis hierher zwar dauernd geblinzelt aber partout kein einziges Wort mehr heraus gebracht hatte.

Hochwürden werden es selbst sehen – sagte der Küster wieder und machte dem Bischof ein Zeichen, sich hinter einer Heiligenfigur im Eingangsbogen der Kirche zu verstecken.

Nun reichte es ihm aber. Der Bischof war gerade im Begriff, den Küster anzufahren, jetzt sofort mit dieser Geheimnistuerei aufzuhören, als eine schreiende weibliche Stimme an sein Ohr drang – tatsächlich, die Stimme schrie gellend:
Ich habe meinen Mann fünfmal betrogen!

Lieber Gott im Himmel – entfuhr es dem Bischof, und er duckte sich hinter dem Heiligen zusammen mit dem Küster. Die Stimme kam aus dem Beichtstuhl und widerhallte in vielfachem Echo im Kirchenschiff. Und dann schrillte sie wieder, wie das jüngste Gericht:
Fünf! Fünfmal!

Was geschieht da in Gottes Namen? – hauchte der Bischof, steif und unbeweglich.
Unser Pater Anselmo, Hochwürden, er wird taub.

Der Arme, er ist schon sehr alt. Aber was ist das hier für eine . . . ?
Er hört die Beichte nicht mehr. Die Leute müssen schreien, um zu beichten.

Und vom Beichtstuhl vernahm man jetzt die Stimme des Paters Anselmo.

Wie viele Male?
F Ü N F!!!

Und dann, ebenfalls mit lauter Stimme, setzte Pater Anselmo die Busse für die fünf Sünden fest, die offensichtlich dem Publikum nicht zusagte. Man sah welche, die Grimassen schnitten und andere, die ihre Köpfe zusammensteckten und flüsterten – “so wenig“?

Endlich kam die Ehebrecherin hinter dem Vorhang hervor und wurde von einem Murmeln des Publikums empfangen. Sie wendete sich zum Altar, wo sie hinkniete und ihre Gebete sprach, ohne jemanden anzusehen. Ihren Platz im Beichtstuhl nahm jetzt ein junges Mädchen ein. Wieder Gemurmel im Volk. Flüstern: “Das ist die Marina“. Und schon hörte man ihre Stimme aus dem Beichtstuhl – irgendetwas über unreine Gedanken.

Was war das? – tönte die Stimme von Pater Anselmo.

Ich hatte unreine Gedanken mit Mário José! – schrie nun ihrerseits Marina, und die mit Stuck und Gold verzierten Wände warfen das Echo ihres Geständnisses zurück.

Ein junger Mann unter dem Publikum, offensichtlich jener Mário José, wurde von zwei oder drei seiner Kumpane beglückwünscht – sie klopften ihm auf die Schultern. Minuten später, nachdem man sich die vom Pater Anselmo verordnete Busse angehört hatte – mit Zustimmung der einen und Empörung der andern – schlüpfte Marina mit gesenktem Blick aus dem Beichtstuhl. An ihre Stelle trat nun ein alter Mann. Zuerst konnte man dessen Stimme ebenfalls kaum hören – bis Pater Anselmo insistierte:

Was?
Mit einem Kopfkissen, Pater!

Die grosse Sensation im Publikum war komplett. Jetzt hätte man eine Nadel zu Boden fallen hören können. Für den Bischof war es an der Zeit, einzugreifen. Er trat aus seiner Deckung hinter dem heiligen Franz von Assisi hervor und schickte die Leute mit donnernder Stimme nach Hause – auch den reuigen alten Mann. Nur der Pater Anselmo begriff die Situation nicht sofort, stand herum und rief “Häh, was – wieso…? Während sich der Bischof mit dem Küster in der Sakristei zusammensetzte, um zu beratschlagen, was nun zu tun sei.

Gar keine Frage, er muss pensioniert werden – sagte der Bischof.
Obwohl, ich meine…
Was? Sprich nur, mein Sohn!

Der Küster war zwar älter als der Bischof, aber weil er wesentlich kleiner von Statur geraten war, klang das “mein Sohn“ des Bischofs durchaus nicht unangenehm in seinen Ohren.

Die Beichten haben viele Menschen in unsere Kirche gebracht. Leute, die wir bisher nie bei uns gesehen haben, kommen jetzt in die Kirche, nur um die Beichten zu hören. Wer weiss denn, ob Gott das nicht so will? Hochwürden wissen doch: Seine Wege sind unergründlich, wenn Hochwürden vielleicht…?

Denk so etwas erst gar nicht zu Ende, mein Sohn! Die Beichte ist ein Geheimnis zwischen dem Gläubigen und Gott. Selbst der Priester ist nur als Gottes Ohr anwesend. Niemand sonst darf zuhören.

Nun denn, Hochwürden – gab der Küster auf und senkte seinen Blick.
Ich werde einen anderen Pater für diese Gemeinde einsetzen. Einen mit gutem Gehör.

Auf dem Marktplatz im Zentrum wurde der Entschluss des Bischofs in dieser Nacht ausgiebig kommentiert und sehr bedauert. Auch das Kino hatte man schon schliessen müssen. Jetzt gab es überhaupt keine Unterhaltungsmöglichkeit in der kleinen Stadt. Wenn es wenigstens noch ein “Flipperama“ gegeben hätte!

Für die Zeit bis zur Ankunft des neuen Gemeindehirten hatte der Bischof Pater Anselmo strikte Anweisung erteilt, die Busswilligen nicht mehr im Beichtstuhl zum Schreien zu bringen. Wenn er ihre Beichte nicht verstünde, dann eben nicht – Gott würde sie jedenfalls hören.

Und während der darauf folgenden Wochen wunderten sich die Gläubigen der kleinen Stadt über die Toleranz des Paters Anselmo, selbst mit den schlimmsten Sündern. Und, um ihn zu testen, erfanden sie geradezu monströse Sünden.

Ich habe meine Grossmutter umgebracht, Pater.
In Ordnung – drei Ave-Marias.
Ich habe das Rathaus in die Luft gesprengt.
Zwei Vaterunser.
Ich hatte unreine Gedanken mit einem Stier, einem Staubwedel und dem Küster, Pater.
Gut, gut, gut…

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