Waimiri Atroari

Zuletzt bearbeitet: 4. Dezember 2020

Während einer langen Zeit geisterten die Waimiri Atroari in der Vorstellung des brasilianischen Volkes herum als ein kriegerischer Indianerstamm, der alle Fremden, die in sein Territorium einzudringen versuchen, aufspürt und gnadenlos umbringt. Diese Vorstellung trug dazu bei, dass die Regierungsautoritäten die Verantwortung über den Bau der Strasse BR 174 (Manaus – Boa Vista) den brasilianischen Militärs übertrugen, die bei den Strassenarbeiten die Indios mit Waffengewalt in Schach halten sollten. Diese Konfrontation gipfelte in der fast vollständigen Ausrottung des Kinja-Volkes (wie sich diese Indios selbst nennen). Die Invasion ihres Territoriums wurde noch verschlimmert durch die Installation eines Bergbauunternehmens und die Überschwemmung eines Teils ihres Territoriums für die Anlage eines Wasserkraftwerks. Aber die Waimiri Atroari stellten sich der Situation, verhandelten mit den Weissen, und heute haben sie die Grenzen ihres Landes, die Erhaltung ihrer Kultur und das Wachstum ihrer Bevölkerung durch Gesetz abgesichert.

Waimiri Atroari

Andere Namen: Kinja, Kiña, Uaimiry, Crichaná
Sprachfamilie: Karib
Population: 1.515 (2011)
Region: Bundesstaat Amazonas
INHALTSVERZEICHNIS
Das Volk der Kinja
Tahkome und Nysakome – die Vorfahren der Waimiri Atroari
Mydy taha – die Dörfer
Maryba – die Entstehung der Feste
Einige Maryba
Die Sprache
Der Erstkontakt
Die Waimiri Atroari heute

Placas informativas, Reserva Waimiri Atroari-AM.
Área de proteção ambiental, Presidente Figueiredo-AM.
Boa Vista - Manaus
Boa Vista - Manaus
Diese Fotos stammen aus der Flickr Foto-Community und werden gemäß der Flickr-RSS API abgebildet.

nach obenDas Volk der Kinja

Die Waimiri erzählen, dass ehemals zwei ihrer Volksgruppen existierten, die “Iky“ und die “Wehmiri“. Die Iky lebten am Oberlauf des Flusses und besassen eine hellere Haut, und die Wehmiri wohnten in der Nähe der Mündung und hatten eine dunklere Haut als die Iky. Diese beiden Gruppen bewohnten auch den Grund des Flusses, denn sie waren Verwandte der “Xiriminja“ (einer mythologischen Gruppe, die sowohl im Wasser lebte, als auch auf dem Festland).

Es war eine Tochter der Iky, die einem “kinja emymy“ (Kinja ohne Penis) den Penis schenkte, und ab diesem Moment soll eine dieser Geschichten über die Herkunft jenes Volkes angefangen haben. Die Waimiri Atroari nennen sich selbst “Kinja“ (wahrhaftige Menschen), im Gegensatz zu den “Kaminja“ (Nicht-Indigenen), den “Makyma“ (Linkshändern) und den “Irikwa“ (den lebenden Toten). Der Name “Waimiri Atroari“, unter dem sie bekannt wurden, stammt aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts, zur Zeit des SPI (dem staatlichen Indio-Schutzdienst). Doch diese zusammengesetzte Bezeichnung repräsentiert nur ein einziges Volk: das “Kinja-Volk”.

nach obenTahkome und Nysakome – die Vorfahren der Waimiri Atroari

Wie die “Kinja“ (so nennen sich die Waimiri Atroari selbst) erzählen, waren damals die mythologischen Wesen und alle Tiere auf der Erde menschlich und lebten inmitten der “Kinja“. Eines Tages regnete es viele Steine, und alle dachten, dass die Welt untergehen würde, aber da gab es ein Haus, dessen zentrales Gerüst aus “Piria“ bestand, einem sehr harten Holz, welches den herabfallenden Steinen widerstand. In diesem Haus wohnten verschiedene Familien, und von ihnen stammen die gegenwärtigen Kinja alle ab. Ihre Genesis wird also unterteilt in die Zeit vor und nach jenem Steinregen. Heute sagen sie, dass sie Nachkommen (zweite Generation) jenes Volkes sind, welches durch den Schutz des Holzgerüstes in dem bewussten Haus überlebt hat.

Die antiken Waimiri Atroari werden “Tahkome“ (maskulin) und “Nysakome“ (feminin) benannt. Tahkome ist ein Terminus, der auch benutzt wird, um sich auf eine weit entfernte Vergangenheit zu beziehen (auf die Zeit, in der die “Takome“ existierten), als alle in Gleichheit und unter den gleichen Bedingungen lebten – alle waren Menschenwesen, obwohl einige auch übernatürliche Kräfte besassen.

Zu jener alten Zeit gab es noch keine Tiere, und die Menschen ernährten sich von Früchten und Knollen, welche die Natur hervorbrachte. “Mawa“, der auch ein Mensch war, lebte damals noch auf der Erde und lieferte den Kinja alle benötigten Lebensmittel. Mawa war einer der Verantwortlichen für die Verwandlung von Menschen (die Regeln missachtet hatten) in Tiere, andererseits brachte er den Kinja bei, wie man Felder anlegt und Nutzpflanzen kultiviert.

Eines Tages war Mawa es leid, auf der Erde zu leben, und um zu verhindern, dass der Himmel über ihm zusammenstürze, bat er die Schildkröte, einen Pfeil zum Himmel zu schiessen, um eine Leiter zu konstruieren, die ihm den Zutritt zu diesem Ort erlaube. Mittels der Verbindung zahlreicher Pfeilschüsse, die den Himmel mit der Erde verbanden, gelang es Mawa, in den Raum über der Erde vorzudringen, und er bereitete sich dort seine Wohnung. Ein paar neugierige Personen versuchten ebenfalls den Aufstieg, aber Mawa schnitt die Verbindung ab, und alle stürzten herab. Jene, die in den Baumkronen hängen blieben, verwandelten sich in die verschiedenen Affenarten. Mawa ist es, der die Kräfte der Natur reguliert, deshalb ist er präsent in vielen Überlieferungen von Tag und Nacht, in der Herkunft des Donners und der Sintflut.

Auf der Erde leben die Kinja, die sorgfältig den Ort zum Bau ihres Hauses auswählen. Rund um ihr Haus legen sie ein Feld an – hinter dem Feld beginnt der Wald. Dieser Wald ist der Ort der Jagd, jedoch ist er auch ein Ort der Gefahr für die Menschen, deshalb wird er von Kindern und Frauen ohne Begleitung gemieden. Dort leben die “Irikwa“ (die lebenden Toten), die “Lamai“ (Wesen, die Fledermäusen ähneln) und die “Lanana“. Alles schreckliche Wesen, die sich vom Blut und dem Fleisch der Kinja ernähren. Irikwa und Lamai können von den Menschen nicht gesehen werden. Wenn es doch einmal geschieht, wird die betreffende Person sterben – ihre vitale Energie nimmt langsam ab und führt zum Tod.

Lanana wohnt im Stamm eines Angelim-Baumes. Sie tötet und verzehrt die Kinja. Eines Tages entdeckte ein Kinja ihre Behausung und zündete sie an. Ihr Sohn überlebte und wurde im Dorf als Kinja aufgezogen. Er hatte viel Glück bei der Jagd, was bei den Dorfbewohnern grosse Bewunderung auslöste. Freimütig berichtete er, wie er jagte, aber sie glaubten ihm nicht. Verstimmt begab er sich in den Wald und traf dort auf seine Grossmutter, die ihm die ganze Geschichte seiner Herkunft erzählte und ihn dazu bewegte, definitiv in den Wald zurückzukehren.

In der aquatischen Welt leben die Fische, eine weitere bedeutende Proteinquelle für die Kinja. In diesem Bereich leben auch die “Xiriminja“, halb menschliche Wesen, die auf dem Grund von Flüssen und Seen wohnen. Die Xiriminja boten den Kinja ihre Töchter zur Einheirat an. Zu jener Zeit hatten die Männer noch keinen Penis – eine Tochter der Xiriminha schenkte dieses Organ den Kinja. Aus der Vertiefung der Beziehungen zwischen diesen beiden Völkern ging eine Bereicherung der materiellen und immateriellen Kultur der Kinja hervor. Die Xiriminja lehrten sie, wie man Körbe flicht (mit ihren unterschiedlichen Zeichnungen), einige Gesänge und Tänze des “Maryba“ zur männlichen Initiation stammen von ihnen, und ebenfalls die Kenntnisse der Bestellung der Felder mit verschiedenen essbaren Pflanzen. Obgleich sie unterschiedliche Lebensräume besetzten, unterhielten die mythologischen und die menschlichen Wesen eine enge Verbindung miteinander.

nach obenMydy taha – die Dörfer

“Mydy taha” (grosses Haus) ist die Bezeichnung, mit der sie jenen Raum benennen, den ihr Dorf einnimmt, ihre Wohnung und ihr gesamtes Umfeld – inklusive die Pflanzungen. Als Mydy taha wird auch die kommunale Behausung in kreisrunder Form bezeichnet, in der die Mehrheit des Dorfes wohnt. Die Mydy taha ist ein wichtiger Raum für die Waimiri Atroari, denn neben seiner Bedeutung als Wohnung, dient er auch als Ort ihrer Rituale und Festivitäten. Die Mydy taha befinden sich in der Nähe von Igarapés (Bächen) und auch an grösseren Flüssen. Jedes Dorf hat seine eigene wirtschaftliche und politische Autonomie, es gibt keine zentrale Macht.

Die Errichtung eines neuen Dorfes richtet sich nach dem Zuwachs der Bevölkerung und hängt von einer Person mit dem entsprechenden Prestige ab, dem “Mydy iapremy“ (dem Herrn des Dorfes), um eine Anzahl von Haushaltsgruppen zum Bau des neuen Wohnraums zu mobilisieren Zuerst wählt man die beste Lokalität aus – innerhalb des Territoriums der Gruppe – dann beginnt man mit der Anlage der Felder. Wenn dann die Felder Früchte hervorbringen, beginnt die Gruppe mit der Konstruktion einer grossen kommunalen Wohnung in runder Form, dem “Mydy taha“. In dieser kommunalen Behausung wohnen verschiedene lokale Gruppen, die aus Verwandten und Verschwägerten, sowie deren Angehörigen, bestehen. Jede Familie hat ihre eigene Feuerstelle und einen für ihr Privatleben vorgesehenen Teilbereich.

Die wirtschaftlichen Aktivitäten eines solchen Dorfes basieren auf der Jagd, dem Fischfang, dem Sammeln von Waldfrüchten und dem Ackerbau. Die Jagdausflüge werden von den Männern durchgeführt und finden sowohl tagsüber als auch nachts statt. Der Fischfang ist beiden Geschlechtern erlaubt, und es ist üblich, dass am Fischen die ganze Familie teilnimmt. Eine weitere Arbeit, an der sich die gesamte Familie beteiligt, ist das Sammeln von Früchten des Waldes. Beim Bestellen der Felder kann man eine grössere Trennung der Geschlechter beobachten: Die Rodung, das Abbrennen und die Säuberung des Bodens ist Aufgabe der Männer. Die Pflanzung gehört dem Kollektiv, und alle Familien beteiligen sich an ihrer Pflege und teilen sich die entsprechende Produktion – wobei das Ernten zu den ausgesprochen femininen Aktivitäten gehört.

Ausser den auf den Feldern produzierten Produkten (verschiedene Arten von Maniok und Süsskartoffeln, Cará-Wurzeln und einige Früchte) und der Fische, stehen auf dem Speiseplan auch jagdbare Tiere, wie der Tapir, Affen, Agutis, Wildschweine, Auerhähne Fasane, und andere. Aber nicht alle wilden Tiere und Fische sind den Waimiri Atroari zum Verzehr erlaubt. Es gibt verschiedene Nahrungsbegrenzungen, die von einigen markanten Geschehnissen im Leben der Waimiri Atroari abhängen, wie Geburten, Übergangsriten, die erste Menstruation und eine Purifizierung (Reinigung) des Körpers vor und nach einem Krieg.

Die bevorzugte Heirat findet zwischen “gekreuzten Cousins“ statt und bringt dem Paar einen neuen Status ein: Ausser dem Erhalt sämtlicher Bürgerrechte bilden sie eine neue Kernfamilie und Haushaltsgruppe innerhalb der lokalen Kommune. Mit der Eheschliessung akzentuieren sich die familiären Kompromisse: Der Mann ist für die Pflege des Feldes und die Beschaffung der Lebensmittel für seine Familie verantwortlich – die Frau übernimmt die Küche und die Beaufsichtigung der Kinder. Die Verteilung der Aufgaben hängt vom Geschlecht, vom Alter und dem zivilen Status ab. Der Aufgabenbereich erweitert sich mit zunehmendem Alter – und wird kleiner im Greisenalter. Trotzdem sieht man häufig Männer, die ihren Frauen bei der Zerlegung von Wildbret, dem Ausnehmen von Fischen, bei der Aufsicht der Kinder und bei der Zubereitung des Maniokmehls für den Konsum der Kommune zur Hand gehen.

Die Erziehung einer Person vom Volk der Waimiri Atroari hängt von ihrem Geschlecht ab. Jungen und Mädchen bis zum Alter von vier Jahren stehen unter der Obhut ihrer Mütter und werden stimuliert, deren Tätigkeiten zu imitieren und zu wiederholen. Ab diesem Alter werden die Knaben mittels eines Initiationsrituals von den Mädchen getrennt – ein spezifisches Fest wird dafür veranstaltet. Ab diesem Alter von zirka vier Jahren werden sie vom Vater in Aktivitäten unterwiesen, wie sie traditionell beim männlichen Geschlecht üblich sind.

Eine besondere Aktivität im Alltag eines Dorfes ist die Konfektion von Artefakten des täglichen Gebrauchs im Haushalt und auch als Körperschmuck. Die Waimiri Atroari sind exzellente Weber und Korbflechter. Alle ihre wunderbaren Korbwaren werden von den Männern hergestellt, die das Handwerk ihren Söhnen beibringen, wenn diese ein heiratsfähiges Alter erreicht haben. Die Männer produzieren die Objekte, welche dann von den Frauen bei ihrer täglichen Arbeit benutzt werden, wie den “Wyiepe“ (grosser Transportkorb), den “Matepi“ (Babykorb), den “Matyty“ (ein Korb mit doppeltem Boden) und den “Wyre“ (Fächer).

Die Männer stellen auch den “Pakra“ her, (einen Korb mit Deckel, um darin verschiedene Rohmaterialien aufzubewahren), sowie den Bogen und die entsprechenden Pfeile, die sie zur Jagd und zum Fischfang verwenden. Die Mehrheit der Korbwaren ist dekoriert mit eingeflochtenen Zeichnungen, die ihre Vorfahren ihnen vererbt haben, und deren Design mythologischen Ursprungs ist. Zum Erlernen dieses Kunsthandwerks beginnt ein junger Mann zuerst mit einem einfachen Design – entsprechend seines Alters – bis er schliesslich die Geschicklichkeit erlangt und die Zustimmung erhält, die komplexen Designs zu versuchen, deren Konfektion nur den älteren Männern erlaubt ist.

Die Frauen erhalten dann die Artefakte für ihren Gebrauch von ihren Ehemännern und Schwiegervätern. Diese weben auch die Hängematten aus Buriti-Palmfasern, in denen ihre Frauen gebären, die Armreifen, die Ketten und die Fächer fürs Feuer. In früheren Zeiten modellierten sie auch die Krüge, Pfannen und Töpfe aus Keramik, die heute durch solche aus Aluminium ersetzt werden.

Inzwischen sieht man im Dorf die verschiedensten Objekte, die früher im Leben der Waimiri Atroari nicht existierten. Die ersten waren zweifellos Werkzeuge zum Schneiden und dann folgten die Kleidungsstücke. Noch vor wenigen Jahren – etwa dreissig Jahre zurück – konnte man Männer sehen, die einen Gürtel aus Titica-Lianen trugen, in den der Penisschaft integriert war. Die Frauen trugen einen Lendenschurz aus Tucum-Palmbast, dekoriert mit Bacaba-Samenkernen. Dies war die traditionelle Körperdekoration der “Kinja“. Heute ist es üblich, dass die Männer in kurzer Hose (Badehose oder Short) auftreten und die Frauen mit einem Textilröckchen bekleidet sind.

nach obenMaryba – die Entstehung der Feste

Während verschiedener Perioden im Jahr unterbrechen die Waimiri Atroari ihre alltäglichen Aktivitäten, um ihre rituellen Zeremonien und Feste zu veranstalten. Es gibt zwar keinen spezifischen Kalender für diese “Maryba“, wie diese Festlichkeiten genannt werden, sondern die Daten werden mit den “Eremy“ (Sängern) festgelegt – sie finden in der Regel statt in Perioden geringer kommunaler Arbeiten, wie der Vorbereitung und Bepflanzung der Felder.

“Maryba“ kann mit Fest, Gesang und Tanz übersetzt werden. Es ist ein ritueller und auch ein festlicher Moment, in dem man sich vom Alltäglichen löst, um sich in eine andere Zeit und einen anderen Raum zu transportieren. Diese Feste haben eine spezielle Bedeutung im Leben der Waimiri Atroari – verschiedene lokale Gruppen vereinen sich, um Allianzen miteinander neu einzugehen oder zu bestätigen.

Es gibt eine Reihe von Geschichten, in denen die Entstehung der “Maryba“ erklärt wird. Einige der bekanntesten sind die folgenden:

“Zur Zeit der “Tahkome” feierten die Kinja keine Feste, denn sie konnten weder singen noch tanzen. Die Xiriminja, jene Wesen des Wassers, halb Fisch und halb Mensch, die den Tahkome Frauen verschafft hatten, brachten ihnen einen “Maryba“ (Gesang) bei, der anlässlich des Besuchs ihrer zukünftigen Enkel von den Tahkome gesungen werden sollte. Und sie liessen ausrichten, dass niemand in die Nähe ihrer Nachkommen gelassen werden sollte, denn sie wollten als Erste sehen, ob ihre verwandten Enkel mit den Kennzeichen des Wasservolkes geboren worden waren: den mit einer Membran verbundenen Fingern. Als sie dann ins Dorf kamen, mit ihrem ganzen Anhang an riesigen Schlangen und anderen, wild aussehenden Xiriminha, ängstigten sich alle Tahkome. Aber als die Dorfbewohner dann die Gesänge der Wasserleute hörten und ihre Tänze erlebten, beruhigten sie sich wieder – und schliesslich sangen und tanzten sie mit ihnen.

Währenddessen näherte sich im Haus ein neugieriges Kind einem neugeborenen Enkel der Xiriminja, und als es dessen Hand, die so ähnlich aussah, wie ein Entenfuss, streckte es seine Finger aus und zerriss die Schwimmhäute. Der Xiriminja-Grossvater eilte auf das Geschrei herbei, sah die Bescherung und machte sich zornig auf den Rückweg zu seinem Domizil unter Wasser – und sein ganzes Volk hinterher. Deshalb erlernten die Kinja nur einen Teil der Gesänge und Tänze der Wasserbewohner, und die präsentieren sie beim “Maryba“, anlässlich der Initiation der Knaben – jedoch darf keine schwangere Frau dabei sein, sonst könnten die Xiriminja annehmen, dass wieder einer ihrer Enkel auf dem Weg ins Erdenleben ist“.

“Ein anderes Mal befand sich ein “Kinja Tahkome“ auf der Jagd und legte eine Pause ein, um ein bisschen zu schlafen. Ein Wassertropfen fiel auf seine Wimpern, und als er seine Augen öffnete, bemerkte er eine Frau, die vor ihm stand. Das war “Weriri kyrwaky“, die Tochter des Papageis. Der Jäger wollte die Frau gerade mit einem Pfeil töten, als ihr Vater dazwischentrat und ihm die Frau zur Heirat versprach. Und der Kinja heiratete die Frau und nahm sie mit in sein Dorf. Dort lehrte “Weriri kyrwaky“ die Kinja verschiedene Gesänge und Tänze. Aber nach einiger Zeit hatte sie Sehnsucht nach ihrem Vater und begann auf dem Feld zu singen, um ihren Erzeuger auf sich aufmerksam zu machen. Der Ehemann misstraute jedoch den Absichten seiner Gattin, und vor blinder Eifersucht tötete er sie. Seither singen und tanzen die Kinja auch alle jene “Maryba“, die sie einst von dieser Frau gelernt haben“.

nach obenEinige Maryba

Die Waimiri Atroari bereiten sich während einiger Monate auf das Fest der maskulinen Initiation vor. Es findet statt, wenn einige Knaben ein Alter von drei bis vier Jahren erreicht haben. Die Eltern der Kinder einer lokalen Gruppe versammeln sich mit den “Eremy“, um zu vereinbaren, für welchen Zeitpunkt sie das Fest anberaumen sollen. Wenn das Datum dann feststeht, webt der Vater eines Kindes einen Kalender, der aus verschiedenen, in Streifen geschnittenen Schilfhalmen besteht, die mit einer dünnen Schnur miteinander verbunden sind. Diese Schilfstücke repräsentieren die Tage, die bis zum Eintreffen der eingeladenen Gäste noch fehlen. In diesem Kalender gibt es auch eine Markierung, einen Einschnitt mit einem Messer, der den Tag markiert, an dem die Bananen geerntet werden müssen, um nachzureifen für die Zubereitung des “Mingau“ (einem Bananenbrei).

Wenn der Kalender zu Ende geht, verlassen die Eltern ihr Dorf, um die weiter entfernt lebenden Verwandten persönlich einzuladen. Die Angehörigen (paxira) desselben Familienclans begeben sich in das Dorf, in dem das Fest stattfinden wird, um bei den Vorbereitungen zu helfen. Die Frauen kümmern sich um die gesamte festliche Verpflegung der Gäste, wobei die Mütter und Grossmütter (mütterlicher und väterlicherseits) die Aktivitäten in der Küche organisieren. Die Männer beschäftigen sich derweil mit der Konfektion der Artefakte: Pfeilen und Körben. Die Pfeile werden später den “Eremy“ (Sängern) als “Bezahlung“ ihrer Dienste angeboten und den “Paxira“ als Dank für ihr Erscheinen. Die Körbe dienen als Behältnis zum Anbieten der Nahrungsmittel, besonders für das geräucherte, klein geschnittene Fleisch – und die kleineren werden später den initiierten Knaben auf den Kopf gesetzt, mit den Wünschen für angenehme Träume und, dass sie sich mit viel “maty“ entwickeln mögen (als gute Jäger und Fischer).

Die Eltern der Kinder teilen sich auf bei den Einladungen zwischen den verschiedenen Kommunen, und sie verbleiben bei ihren Verwandten bis der Tag ihrer Wanderung in Richtung ihres gastgebenden Dorfes gekommen ist. Expeditionen aller Bewohner der verschiedenen Dörfer werden organisiert auf den Pfaden, welche die einzelnen lokalen Gruppen verbinden. Im Verlauf dieser Wanderung durch den Wald betätigen sich die Männer mit dem Jagen von Wild, zerteilen die Beute und bewahren das Fleisch auf für das Fest. Im Camp unterwegs werden nur Waldfrüchte und weniger edle Stücke vom Fleisch verkonsumiert. Transportkörbe, schnell zusammengeflochten aus Blättern der Patauá-Palmen, werden mit Fleisch gefüllt und von den Vätern der Knaben bis in ihr Dorf getragen.

Bevor sie das Dorf erreichen, errichten die eingeladenen Gäste an der Peripherie ein provisorisches Camp, um dort den Sonnenaufgang des nächsten Tages abzuwarten, an dem das Fest beginnt. Kurz bevor die Sonne am Horizont erscheint, beginnen die “Eremy“ zu singen und wecken so die Schläfer. Mit Flöten untermalten Gesang kann man auch aus dem Dorf vernehmen – dort im “Mydy taha“ machen sich alle Bewohner bereit, ihre Gäste gebührend zu empfangen.

Die von der Initiation (Einführung eines Außenstehenden) betroffenen Knaben werden aus dem Haus zu einer Bank auf dem Dorfplatz geführt, die speziell für diese Zeremonie angefertigt worden ist. Manchmal werden die Knaben von ihren halberwachsenen, unverheirateten Schwestern bei diesem Empfang begleitet. Alle Gäste betreten den Dorfplatz singend, angeführt von den Vätern und den “Eremy“, die an ihrer Spitze marschieren. Die Menge umkreist die Bank der Knaben, übergibt den Gastgebern die Jagdbeute und wendet sich dann ins Innere der “Maloca“ (Gemeinschaftshaus), wo sie mit Fladenbrot (Maniok) und “Mingau“ (Brei) aus Buriti-Palmfrüchten empfangen werden.

Das Fest kann ohne die Präsenz der “Eremy“ nicht stattfinden. Sie sind es, die zusammen mit den Vätern der Knaben, den Zeitpunkt des Festes festlegen, und auch die Person bestimmen, welche die gesamte Arbeit während des Rituals leitet. Um “Eremy“ (Sänger) zu werden, reicht der Wille allein nicht aus, sondern man muss bereit sein, eine langfristige Lehre bei einem erfahrenen Sänger zu absolvieren, diszipliniert und mit einem guten Gedächtnis. Die Funktion kann von beiden Geschlechtern ausgeübt werden. Von ihnen werden die Gesänge intoniert, mit denen man eine Zeremonie mit dem Kosmos verbindet. Ihr Gesang erzählt von den Tieren, der Nahrung, von mythologischen Helden, und er wird in einer Sprache dargeboten, die heute keiner mehr spricht. Das Wissen der “Eremy“ umfasst auch die Anwendung von Heilmitteln, den Umgang mit Kranken und die Geburtshilfe innerhalb der Familien.

Es gibt weitere Feste, wie das Ritual der lebenden Toten oder die Einweihung eines Hauses. Das “Irikwa maryba“ (Ritual der lebenden Toten) wird durchgeführt, wenn sich irgend ein böser Geist dem Dorf nähert – das Ritual soll ihn besänftigen und verjagen. Dasselbe Ritual wird auch veranstaltet anlässlich des Todes eines Verwandten, damit seine Seele nicht in der Welt der Lebenden herumirrt. “Irikwa“ ist ein Wesen, das Unglück über die Menschen bringt. Es lebt im Wald, und der Kinja, dem es begegnet, ist dazu verdammt, langsam zu vertrocknen, bis sein Leben erlischt – es gibt kein Heilmittel gegen diese Art Infekt. Das “Irikwa maryba“ wird immer dann durchgeführt, wenn es nötig erscheint – es gibt also für dieses Ritual keinen bestimmten Zeitpunkt im Jahr.

Das Fest “Mydy maryba“ (Fest des neuen Hauses) findet statt nachdem die lokale Gruppe ihre Arbeiten an den Wänden und der Dachbedeckung beendet hat. An dem Fest nehmen die verschiedenen Haushaltsgruppen teil, die sich als Mitarbeiter am Bau der neuen “Maloca“ beteiligt haben. Das Fest wird veranstaltet, um die neue Behausung mit einem Fluidum guter Wünsche zu füllen, damit die “Irikwa“ sich nicht in seine Nähe wagen und auch, damit das zu seinem Bau benutzte Material eine dauerhafte Stabilität besitze.

nach obenDie Sprache

Die Sprache der Waimiri Atroari – die “kinja iara“ (Sprache unserer Leute) – gehört zur linguistischen Familie Karib. Sie wird von allen Angehörigen dieses Volkes gesprochen, sie ist Referenz bei der Kommunikation zwischen ihnen und auch zur Alphabetisierung. Portugiesisch wird als Kontaktsprache benutzt, aber sein Gebrauch beschränkt sich auf die Schule – in den Klassen zum Erlernen einer der Zweitsprache und bei interethnischen Kontakten. Die Zweisprachigkeit ist relativ niedrig, sie liegt in der Bevölkerung bei zirka 20%, die meisten dieser Zweisprachigen sind Männer (junge und erwachsene), die der Waimiri Atroari Gesellschaft und anderen indigenen und nicht indigenen Gruppen als Dolmetscher dienen.

nach obenDer Erstkontakt

Die Geschichte des Erstkontakts der nicht indigenen Gesellschaft mit den Waimiri Atroari in der Region, in der sie noch heute leben, liegt weit zurück im 17. Jahrhundert, als sowohl die portugiesische wie die spanische Krone, interessiert an der Abgrenzung ihrer geopolitischen Territorien, die ausbeuterische Expansion der von ihnen annektierten Gebiete vorantrieben. Der offizielle Kontakt jedoch nahm seinen Anfang gegen Ende des 18.Jahrhunderts (1884) durch João Barbosa Rodrigues, der sich als erster “Befrieder“ dieses indigenen Volkes bezeichnete. Barbosa Rodrigues besuchte verschiedene Dörfer in der Nähe des indigenen Territoriums in der Absicht, Berichte über dieses Volk zu sammeln. Er nannte sie “Crichanás“ und behauptete, dass dies der Name jener Ethnie sei, die er zur Zeit seiner Expedition angetroffen habe, und dass die “schrecklichen und verräterischen“ Eingeborenen, die dort gelebt hatten, nicht mehr existierten. Diese neue Benennung gründete auf der Tatsache, dass der “Befrieder“ beabsichtigte, ein neues Image der Eingeborenen jener Region zu konstruieren. Denn dies würde seine Mission vereinfachen, einen etwas freundlicheren Kontakt zwischen den Indios und den Nicht-Indios zu erreichen, denn der war zu jener Zeit von extremer Feindschaft geprägt.

Zu Beginn des 20.Jahrhunderts (1911) durchkämmte Alípio Bandeira, der Repräsentant des damaligen “Serviço de Proteção ao Índio“ (SPI) – des im Dezember 1967 aufgelösten Indianerschutzdienstes – eine Region, die vom Rio Jauaperi durchquert wird, als er von neuen Kontakten mit jenen Indios erfuhr, die man jetzt “Uaimirys“ nannte. Der SPI-Mann fand jedoch, so wie in historischen Zeiten, die gleiche verfeindete Situation zwischen Indigenen und Nicht-Indigen vor. Im Jahr 1912 errichtete er den ersten Posten am Rio Jauaperi, um mit den Indios in Kontakt zu kommen. Ab diesem Datum koordinierte der SPI die Arbeiten und die indigene Politik in dieser Region. Nur theoretisch, denn dieses staatliche Organ hatte damals nur eine geringe Autonomie, um die indigene Politik jener Epoche durchzusetzen.

Die Waimiri Atroari mussten mitansehen, wie ihr Territorium zunehmend von Ausbeutern seiner natürlichen Ressourcen invadiert wurde (Tierfelle, Paranüsse, Edelholzbäume, und andere), und sie machten Front gegen diese Invasoren mit Pfeilen und Bogen. Der Ruf der Tapferkeit dieses Volkes erreichte die Hauptstadt der Provinz Amazonas, und militärische Expeditionen wurden organisiert, um diese indigene Gruppe zu zerstreuen. Bei dem Versuch, die Invasoren aus ihrem Territorium zu vertreiben, erlitten die Waimiri Atroari, nach Berichten und Dokumenten, viel grössere Verluste als die Nicht-Indigenen.

Zu jener Zeit hatte die Staatsregierung ihre Wirtschaft auf den Produkten des Regenwaldes aufgebaut. Deshalb war die indigene Bevölkerung ein Hindernis für die Sammler der “Drogen aus dem Sertão“ (wie die Produkte des Regenwaldes einst von den Portugiesen genannt wurden), denn in ihren Territorien vermutete man grosse Vorräte dieser Produkte. Invasionen der von Indios besetzten Regionen fanden statt, und die Denunzierungen solcher Invasionen wurden als Verleumdungen gegen die Sammler bezeichnet, ausgestreut von Personen, die das Wachstum der Staatswirtschaft zu verhindern suchten.

So geschah es, als die Indios gegen die Invasion ihres Territoriums protestierten, indem sie Nicht-Indios angriffen und töteten, dass man mit Repressalien reagierte, um die Getöteten zu rächen und die Mörder zu bestrafen. Solche Strafexpeditionen waren stets disproportional für die Indios, angefangen bei der Bewaffnung: auf der einen Seite Feuerwaffen, auf der andern Pfeil und Bogen. Auf der einen Seite 300 Nicht-Indios gegen eine viel geringere Anzahl Eingeborener. Es war ein ungerechter und ungleicher Krieg. Wegen ihrer begrenzten Zahl an Kriegern, war der Kampf der Waimiri Atroari ein Akt der Verteidigung ihres Territoriums, ihrer Ehre und ihrer Gemeinschaft. Ganze indigene Dörfer wurden bei überraschenden Überfällen der Soldaten dezimiert – aber selbst dann wehrten sich die Indios mit aussergewöhnlicher Geschicklichkeit und Kampfmoral. Und so nahm die Reputation der Waimiri Atroari als tapfere, wilde Krieger, die sich einem Kontakt widersetzten, weiter zu – so stark, dass sich ein Mythos um ihre gesellschaftliche Identität zu ranken begann.

Ende der 1960er Jahre begannen die Regierungen des Bundesstaates Amazonas und des föderativen Territoriums von Roraima mit den Vorarbeiten zum Bau der Autostrasse Manaus/Caracaraí, die diese beiden Munizipien auf dem Landweg verbinden sollte. Weil nun die Auseinandersetzung zwischen den Waimiri Atroari und der nicht indigenen Gesellschaft allgemein bekannt waren, forderte das Strassenbauamt des Bundesstaates Amazonas (DER-AM) die FUNAI (Nachfolgeorganisation des SPI) auf, die Eingeborenen so schnell wie möglich zu “befrieden“, um mögliche Konfrontationen mit den Strassenarbeitern zu vermeiden.

Also konzentrierte sich die FUNAI nun verstärkt auf die Aktivitäten der Kontaktfront Waimiri Atroari, unter der Verantwortung des Waldläufers Gilberto Pinto Figueiredo, um endlich eine Befriedung der “wilden Indios“ zu erreichen. Gilberto leitete die Kontakte ein, indem er die indigene Politik der FUNAI in die Tat umsetzte: Er besuchte die Dörfer, kommunizierte gestikulierend mit den Eingeborenen, und tauschte mit ihnen “Geschenke“ aus (Alutöpfe, Messer, Beile, Besteck, Kleidung) gegen von ihnen konfektionierte Objekte. Er schuf verschiedene Kontakt-Posten an strategischen Orten, um sein Ziel zu erreichen, die Indios möglichst weit weg von der geplanten Strasse zu locken. Seine Anstrengungen wurden von der DER-AM als zu langwierig bezeichnet – die Kompanie stand unter politischem Druck hinsichtlich der Abwicklung der Strassenarbeiten. Und prompt forderte sie die Absetzung des FUNAI-Beamten.

Mit der Entlassung von Gilberto Pinto Figueiredo übernahm der italienische Pater Giovanni Calleri, vom Prälat in Roraima, die Verantwortung für die Befriedung der Eingeborenen. Die Expedition Calleri bestand aus acht Männern und zwei Frauen. Zum ersten Mal nahmen Frauen an einer solchen Aufgabe teil – diese Frauen sollten der Expedition einen “normalen, eher familiären Charakter“ verleihen, so meinte der Pater.

Seine Strategie war es, die Annäherung vom Wasser der Flüsse aus zu versuchen, die in den Augen Calleris als neutrales Territorium anzusehen wären, und deshalb von den Indios respektiert würden. Und er nahm an, dass ein Kontakt mit einem von den Strassenarbeiten am weitesten entfernten Dorf leichter wäre, denn diese Indios hätten ja “die Ankunft der Weissen“ noch gar nicht mitbekommen. Die Absicht, mit den Aktivitäten am Rio Alalaú zu beginnen, wo sich die entferntesten Dörfer befanden, wurde dann aber verworfen, stattdessen konzentrierte man sich auf die ersten Kontaktversuche am Rio Santo Antonio do Abonari. Die Änderung des Plans wurde mit der Notwendigkeit begründet, Konflikte zwischen den Waimiri Atroari und den Strassenarbeitern schlichten zu müssen. Calleris Expedition im Gebiet der Waimiri Atroari dauerte fünf Tage – es gelang ihm auch, mit den Bewohnern einer Maloca in Kontakt zu kommen – jedoch am Ende des fünften Tages waren fast alle Mitglieder der Expedition tot, nur ein Fährtenleser überlebte das Massaker.

Nach der Vernichtung der Equipe von Pater Calleri, ruft man Gilberto Pinto de Figueiredo zur FUNAI zurück, und die Verantwortung für den Bau der Strasse wird vom DER-AM auf das Strassenbauamt der Landesregierung (DNER) übertragen, die das angefangene Projekt in eine “Rodovia Federal“ (Bundesstrasse) BR 174 (Manaus nach Boa Vista) verwandelt. Der DNER überträgt an das Brasilianische Militär – bisher ohne Tradition im Strassenbau – die Mission, die Konstruktion der Strasse zu koordinieren und die Arbeiten auszuführen. Und so werden die Arbeiten an der Strasse vom “20 Grupamentos de Engenharia e Construção“ (20 GEC) und dem “60 Batalhão de Engenaria e Construção“ (60 BEC) wieder aufgenommen.

Die Beziehungen zwischen den Funktionären der FUNAI und dem Militär waren gespannt während der Arbeitsperiode an dieser Strasse. Auf der einen Seite schuf die FUNAI Verhaltensnormen für die Arbeit im Indio-Territorium für alle, die am Strassenbau beteiligt waren – auf der anderen Seite übertrat das Militär diese Normen und leitete die Ingenieursarbeiten nach seinem Dafürhalten. Der Druck zur Beendigung der Arbeiten verschärfte die Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Institutionen nur noch mehr und das Militär warf die bisher entwickelten Verhaltensregeln der FUNAI einfach über den Haufen. Als Folge jener Missverständnisse starb Gilberto Pinto Freire, und alle, die sich in seinem Kontakt-Posten befanden (1974).

Der 60 BEC erhöht den Arbeitsrhythmus und beendet die Strasse innerhalb der von der Regierung vorgegebenen Zeit. Um nun den Verkehr und die Sicherheit der Strassenbenutzer im Abschnitt des territorialen Gebietes der Waimiri Atroari zu garantieren, installiert der 60 BEC Kotrollposten bei der Ein- und Ausfahrt des besagten Strassenabschnitts, an der Süd- und an der Nordgrenze des indigenen Territoriums.

Die Entwicklungspläne der Landesregierung für Amazonien berührten auch weiterhin das Territorium der Waimiri Atroari. In den 1970er Jahren entdeckt das Projekt RADAM ein Vorkommen von Cassiterit in ihrem Territorium. Anfang der 1980er Jahre zeigt das Unternehmen Paranapanema Interesse an der Ausbeutung dieses Mineraliendepots. Unter Mithilfe der FUNAI und des Ministeriums für Minen und Energie, mittels des “Departamento Nacional de Produção Mineral (DNPM)“, erreicht das Unternehmen einen Prozess, der die Tilgung der “Reserva Indígena Waimiri Atroari“ vorsieht, die am 13.07.1971 geschaffen und gesetzlich registriert wurde – sie soll in eine “vorübergehend verbotene Zone“ verwandelt werden, “zur friedlichen Kontaktaufnahme mit den Indios Waimiri Atroari“ (23.11.1981). Die Unverschämtheit der Paranapanema geht noch weiter: Ausgenommen vom neuen Dekret des Präsidenten soll allerdings jenes Gebiet des indigenen Territoriums sein, in dem sich die Cassiterit-Lager befinden.

Ebenfalls innerhalb der 1980er Jahre stellte ein weiteres Regierungsprojekt die Geduld der Waimiri Atroari auf eine harte Probe: Dabei handelte es sich um die Konstruktion des Wasserkraftwerks Balbina, durch das Unternehmen Eletronorte, dessen Stausee 30.000 Hektar des Indio-Territoriums überflutete.

nach obenDie Waimiri Atroari heute

Das Indio-Territorium Waimiri Atroari befindet sich im brasilianischen Teil Amazoniens, zwischen dem Norden des Bundesstaates Amazonas und dem Süden des Bundesstaates Roraima. Die Waimiri Atroari bewohnen die Region am linken Ufer des Unteren Rio Negro, in den Becken der Flüsse Jauaperi und Camanaú und ihren Zuflüssen Alalaú, Curiaú, Pardo und Santo Antonio do Abonari. Vor langer Zeit war dieses Territorium “kinja itxiri“ (Das Land der Kinja) viel grösser, es reichte bis an die Flüsse Urubu, Uatumã und Anauá. Volkszählungen gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts schätzten, dass das Volk der Waimiri Atroari aus 2.000 und später aus 6.000 Mitgliedern bestand. In den 1970er Jahren betrug die Schätzung der FUNAI nur noch 500 bis 1.000 Personen. Tatsache ist, dass die Waimiri Atroari im Verlauf ihrer Geschichte viele ihrer Mitglieder durch Krieg und eingeschleppte Krankheiten verloren haben – 1988 waren sie auf 374 Personen reduziert. Im Dezember 2001 hatte diese Bevölkerung wieder einen Stand von 913 Personen erreicht, unterteilt in 19 lokale Gruppen in drei Dörfern.

Im Jahr 1987 wurde den Waimiri Atroari und der FUNAI ein erarbeitetes Projekt zur Linderung der vom Wasserkraftwerk Balbina verursachten Umweltschäden präsentiert. Im “Programm Waimiri Atroari“ handelt es sich um Aktionen auf den Gebieten Gesundheit, Erziehung, Umwelt, Unterstützung der Produktion, Überwachung der Grenzen, Dokumentation und Erinnerung. In Übereinstimmung mit diesem Vertrag wurde ihr Territorium 1989 neu demarkiert und gesetzlich registriert.

Die Waimiri Atroari haben Zugang zu einer differenzierten schulischen Erziehung, wo sie selbst über den Lernprozess nachdenken und ihn leiten, sie erhalten ärztlichen und zahnärztlichen Beistand, und ihr Bevölkerungswachstum hat inzwischen einen Durchschnitt von 5,68% pro Jahr erreicht. Sie bemühen sich, die durch den Prozess der Zusammenführung der Kulturen nötigen neuen Anforderungen zu bewältigen, und sie benutzen inzwischen die verschiedensten industrialisierten Produkte zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und zur Verringerung der Entfernungen, die sie früher zu Fuss zurücklegen mussten. Die Verbesserung ihrer Lebensqualität kann man im Alltag der Kinja beobachten, die jetzt mehr Zeit haben, sich den sozio-ökonomisch-kulturellen Aktivitäten zu widmen und dem Zuwachs der Nachkommen, die man an der Menge der Knaben messen kann, die inzwischen in den “Maryba“ initiiert wurden – häufiger und unentbehrlicher den je in der kulturellen Agenda der Waimiri Atroari.

© Maria Elisa Ladeira, Anthropologin. Centro de Trabalho Indigenista (CTI) und Gilberto Azanha, Anthropologe. Centro de Trabalho Indigenista (CTI) – November 2004.
Deutsche Übersetzung/Bearbeitung Klaus D. Günther
© 2003-2024 BrasilienPortal by sabiá brasilinfo
Reproduktion der Inhalte strengstens untersagt.
Aus unserer Redaktion

Letzte News