Kuadê

Zuletzt bearbeitet: 22. Februar 2013

Mit der Legende “Kuadê – ein Juruna tötet die Sonne“ müssen wir noch einmal darauf hinweisen, dass bei den Eingeborenen Südamerikas die Sonne als männliches Wesen angesehen wird – der Mond dagegen als weiblich.

Die Legende aus der Mythologie der Juruna-Indios erzählt von “Kuadê“ (der Sonne) der einst ebenfalls als Menschenwesen auf der Erde wandelte. Er wohnte weit weg und bediente sich einer anderen Sprache. Die Juruna pflegten ihn in seinem Haus zu besuchen. In der Nähe gab es ein Loch in einem Felsen, das stets voll mit Wasser war – eine Falle, um Tiere zu fangen. Wenn ein grösseres Tier seinen Kopf in das Loch steckte, um vom Wasser zu trinken, konnte es nicht mehr zurück.

Jeden Tag kam “Kuadê“ vorbei, um nachzusehen, ob sich ein Tier dort gefangen hatte. Wenn ja, tötete er es und nahm es mit nach Hause, um es zu essen. Fischen tat er nur während der Nacht – mit einem Licht, das er an seinem Hintern hatte. Er wurde wütend und brachte jeden um, der behauptete, dass er sein Licht gesehen habe.

kuadeEs gab einen jungen Juruna, der wusste nichts von der Sonnen-Falle, dem Loch im Felsen. Eines Tages kam er dort vorbei und durstig, wie er war, steckte er seinen Kopf in das Loch und trank – dann hing er fest. Als “Kuadê“, die Sonne, am nächsten Tag vorbeikam, stellte sich der Junge tot. Liess alle seine Körperteile schlaff hängen, und sogar sein Herz stand still vor lauter Angst. “Kuadê“ begann, ihn zu untersuchen – öffnete seinen Mund, die Augen, schlug ihm auf die Brust und stellte fest, dass sich tatsächlich alles im Stillstand befand, wie bei toten Leuten üblich.

Also löste “Kuadê“ den Körper aus dem Felsenloch und legte ihn in einen Korb, um ihn damit zu transportieren. Aber bevor er sich den Korb auf den Rücken schnallte, nahm er eine Handvoll Ameisen und streute sie über den bewegungslosen Körper des Juruna-Jungen – er wollte Gewissheit haben, ob dieser wirklich tot war. Der Junge widerstand den Ameisen, ohne sich zu rühren, aber als sie ihn ins Auge bissen, bewegte er sich ein kleines bisschen.

“Kuadês“ blitzende Lanzen, die neben ihm lagen, bemerkten die Bewegung und wollten sogleich zustechen, aber ihr Besitzer verhinderte das, sagte, dass der Junge ganz tot sei. Anschliessend nahm er den Korb auf seinen Rücken und schleppte ihn bis zu seinem Haus, wo er ihn in einer Astgabel deponierte. Als er am folgenden Tag nachsah, war der Korb leer, der Juruna verschwunden. Schon während der Nacht hatte dieser die Flucht ergriffen. “Kuadê“ wurde wütend und schleuderte eine seiner blitzenden Lanzen hinter ihm her – die flog davon und durchbohrte einen Hirsch.

“Kuadê“ – die Sonne – hatte sich das anders vorgestellt und brach zur Verfolgung des jungen Juruna auf. Er hatte ihn bald gefunden – versteckt in einer engen Baumhöhle. Mit den Spitzen seiner Lanzen begann er nun, in dem Loch herumzustochern, der Juruna bekam einiges ab und blutete aus vielen Wunden, aber glücklicherweise war es schon spät am Nachmittag – “Kuadê“ verschloss die Höhlung mit einem grossen Steinbrocken und sprach zu seinen blitzenden Lanzen: “Morgen kommen wir zurück und töten ihn“! In der Nacht, in Abwesenheit der Sonne, erschienen eine Menge Tiere – Tapire, Wildschweine, Hirsche, Pacas, Agoutis – um dem Jungen zu helfen und ihn aus seinem Gefängnis zu befreien.

Von drinnen bat er sie: “Erweitert dieses Loch mit euren Zähnen, damit ich hinauskriechen kann“! Und sie fingen an zu nagen – einige brachen ihre Zähne ab an dem harten Holz, dann waren sofort andere da, um sie zu ersetzen – schliesslich gelang es einem Tapir, diesen schweren Stein so weit beiseite zu schieben, dass eine kleine Öffnung entstand. Der junge Juruna streckte seinen Kopf heraus und bat die Tiere, noch ein bisschen weiter zu nagen. Mit der Erweiterung, welche den beiden Nagern Agouti und Paca zu verdanken ist, gelang es ihm schliesslich, ins Freie zu kriechen. Und als “Kuadê“ erschien, fand er das Loch leer. Der Junge hatte längst sein Dorf erreicht. Und dort berichtete er seinen Verwandten, was ihm widerfahren war – dass er beinahe von der Sonne getötet worden wäre.

Drei Tage später sagte er zu seiner Mutter, dass er in den Wald ginge, um Pupunha-Früchte zu ernten. Die Mutter bat ihn unter Tränen, nicht wieder in den Wald zu gehen. “Geh nicht, mein Sohn, die Sonne wird dich töten“. Der Junge schnitt sich die Haare ab und bemalte seinen ganzen Körper mit “Jenipapo“ (blauschwarze Pflanzenfarbe) – und zeigte sich dann seiner Mutter. “Hab keine Angst, so, wie ich jetzt aussehe, wird mich “Kuadê“ nicht erkennen“. Sprach’s und begab sich in den Wald. Dann kletterte er die erste Pupunha-Palme hinauf, die er fand, um dort die schweren Rispen mit den reifen Pupunha-Nüssen abzuschneiden.

Kuadê – die Sonne – die in der Nähe vorbei streifte, hielt das schwarze Wesen, das in der Palme herumkletterte, zuerst für einen Affen, dann erkannte sie den Juruna-Jungen und rief zu ihm hinauf: “Fast hätte ich dich an jenem Tag getötet – aber diesmal entkommst du mir nicht“. Der Junge machte einen schwachen Versuch, die Sonne zu verunsichern: „Ich weiss nicht wovon Du sprichst, ich bin ein anderer“! Aber die Sonne liess sich nicht darauf ein: “Du bist es – komm herunter, oder ich töte dich mit meinen Lanzen jetzt gleich“! Daraufhin bat der Juruna die Sonne, ihm nur noch einen kleinen Gefallen zu tun: “Bitte fang’ doch diese Rispe mit Früchten für meine Familie auf, dann will ich herunter kommen“ – “Also los, wirf“, sagte die Sonne – der Junge warf die Rispe, und die Sonne fing sie auf. Es war eine kleine Rispe und sie war nicht besonders schwer.

Jetzt rief der Juruna-Junge aus der Palmkrone herunter: “Nur noch diese, dann komm’ ich“ – und als er die Sonne unten mit ausgebreiteten Armen stehen sah, warf er die schwerste Rispe, die er finden konnte, mit Hunderten von hartschaligen Palmfrüchten, hinunter – sie traf “Kuadê“ direkt auf den Kopf und tötete ihn. Als die Sonne starb, wurde die Welt dunkel. Mit dem Tod ihres Besitzers verwandelten sich die Lanzen in Schlangen, die nach allen Seiten davonkrochen.

Das aus dem Körper der Sonne strömende Blut verwandelte sich in Spinnen, Ameisen, Asseln, Würmer und andere Insekten und Kriechtiere. Sie bedeckten den ganzen Boden und der junge Juruna konnte nicht von seiner Palme herunter. Also hangelte er sich wie ein Affe von Baum zu Baum, bis der Boden unter ihm frei von Krabbeltieren war – dort stieg er herunter und machte sich sofort auf den Weg zurück zu seinem Dorf.

Dort angekommen, berichtete er seiner Mutter: “Ich hab’ die Sonne getötet“ – “Warum hast du das getan? Ich hatte dich gebeten, nicht in den Wald zu gehen – jetzt ist alles dunkel“, lamentierte seine Mutter. Und Tage später begannen die ersten Kinder zu sterben, wegen der Dunkelheit, denn niemand konnte mehr fischen, jagen oder auf dem Feld arbeiten.

Und im Dorf von Kuadê, der Sonne, sprach seine Frau zu ihren drei Kindern, die ebenfalls Hunger litten: “Euer Vater ist gestorben, weil er es nicht lassen konnte, Menschen zu töten – wer von Euch will seinen Platz einnehmen“? Der älteste Sohn der Sonne versuchte es zuerst – er setzte sich den strahlenden Kopfschmuck seines Vaters auf den Kopf und fand ihn sehr heiss. Er stieg auf – höher und immer höher – und als es gerade in der Welt zu dämmern begann, ertrug er die Hitze seines Kopfschmucks nicht mehr und kehrte zurück.

Nun versuchte es der mittlere der drei Söhne – setzte sich den strahlenden Federschmuck auf den Kopf und begann empor zu steigen. Es gelang ihm, etwas höher zu gelangen, als sein grosser Bruder, aber dann ertrug auch er die Hitze nicht mehr und kehrte zurück. Nun war nur noch der jüngste Sohn da, um einen Versuch zu wagen. Die Mutter setzte ihm den Kopfschmuck auf und er stieg empor – aber weil ihm die grosse Hitze zusetzte, bewegte er sich schnell im kühlenden Wind und versteckte sich bald auf der anderen Seite hinter den Bergen.

Zurück bei seiner Mutter meinte diese: “Du hast gut durchgehalten, aber morgen musst du versuchen, dich etwas langsamer zu bewegen, damit die Leute fischen, jagen und auf ihren Feldern arbeiten können. Hab’ keine Eile“! Und der jüngste Sohn von “Kuadê“ begann seine Wanderung erneut – diesmal ging er seine Bahn langsam an, und wenn ihm seine Federkrone zu heiss wurde, bat er den Wind um Kühlung. Die Mutter hatte ihm empfohlen, auf halbem Wege eine Pause einzulegen, wenn er den höchsten Punkt erreicht hatte – und dann ganz langsam wieder abzusteigen und schliesslich noch ein bisschen zu warten, bevor er hinter den Bergen verschwände.

Als die Mutter nun sah, wie sich ihr jüngster Sohn langsam seinen Weg bahnte und sich genau an ihre Anweisungen hielt, sprach sie zu sich selbst: “Nun ist er auf dem Platz seines Vaters und wird nicht mehr zu mir zurück kommen“ – und sie weinte, wie alle Mütter weinen, wenn sie einen Sohn verloren haben . . . aber die Juruna und alle anderen Menschenwesen waren glücklich, weil die Sonne wieder am Himmel stand und sie wieder fischen und jagen konnten – und auf ihren Feldern arbeiten.

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