Mário Quintana

Zuletzt bearbeitet: 2. Januar 2013

mario-quintanaDie langsamen Torturen des Ausdrucks
Kein anderer Dichter aus Rio Grande do Sul hat es geschaft, in der Weite unseres Landes, in jeder Region so geliebt zu werden, wie der introvertierte Mário Quintana, der 100 Jahre am 30. Juli 2006 geworden wäre.

Die beste Art und Weise einen Schriftsteller zu ehren, besonders wenn es um einen echten Dichter geht, ist sein Werk wieder herauszugeben, anstatt einen Preis mit seinem Namen zu stiften oder eine Statue auf einem öffentlichen Platz aufzustellen. Glücklicherweise ist es eine neue Ausgabe des insgesamten Werkes von Quintana, welches Editora Globo zur Zeit vorbereitet.

Originaltext: Aricy Curvello (*)
Bearbeitung: Tânia Gabrielli-Pohlmann ©
Deutsche Version: Tânia Gabrielli-Pohlmann + Clemens Maria Pohlmann ©

Wie die meisten Studenten zwischen 1960 und 1969 hatte auch ich in Belo Horizonte mit einem sehr engen Budget (extrem eng wäre genauer ausgedruckt). Bücher in Buchhandlungen zu kaufen, das konnte ich damals nicht. Dann habe ich ein sehr gebrauchte und fast komplett kaputte Ausgabe von “A rua dos cataventos” in einer Secondhand-Buchhandlung gekauft. Es ist das erste Buch unseres Dichters gewesen, welches auch vom Editora Globo im Jahr 1940 herausgegeben wurde. In einem der Sonette gibt der Autor zu, als er angefangen hat “es werden die Konvulsionen und Ausbrüche beginnen” (…) zu schreiben, in dem Versuch das immer ungedruckte Leben zu erfassen, ohne die Anderen zu wiederholen. Für immer hat er mich dadurch als Leser erobert und zwar auch durch seine Ehrlichkeit, seine natürliche Schlichtheit, durch die absolute Abwesenheit von Eitelkeit und Einbildung.

Was er uns im Sonett XXXV transmitiert:
“Quero é ficar com alguns poemas tortos
Que andei tentanto endireitar em vão…
Que lindo a eternidade, amigos mortos,
Para as torturas lentas da Expressão!”

Heute habe ich vor mir die sorgfältige Ausgabe von “A rua dos cataventos”,welche das Jahrhundert von Quintana feiert (S.Paulo:Globo, 2005). Auf Papier pólen print 120-G, wird es für die nächsten Jahrhunderte sicherlich halten, im Gegenteil zu derjenigen, die ich mir als Student in Belo Horizonte leisten konnte. Wie es sein soll, eröffnet dieses Buch die Sammlung Mário Quintana, mit einer Gliederung, Planung der Edition, Festlegung der Texte, Chronologie und Bibliografie unter der Leitung von Tânia Franco Carvalhal. Das ganze Werke von Quintana wird hervorragend neu herausgegeben, “80 anos de poesia” einschliessend.

Es wäre wie eine Betrug dem Dichter gegenüber, dem Ansehen und der Feierlichkeit begrenzt zu bleiben und ignorieren, was er immer hatte und hat noch uns zu sagen:

“Wenn jemand meint, dass du sehr gut schreibst, trau ihm nicht….
… Der perfekte Verbrecher hinterlässt keine Spüren.”

Der folgende Text wurde von dem Dichter für die Zeitschrift IstoÉ vom 14.11.1984 geschrieben:
mario-quintana1Ich bin in der Stadt Alegrete am 30. Juli 1906 geboren. Ich glaube, das war die wichtigste Sache, die mir passiert ist. Und jetzt bittet man mich, über mich selber zu erzählen. Also, ich habe immer gemeint, dass jedes nicht von der Kunst verwandelte Geständnis unanständig sei.

Mein Leben ist in meinen Gedichten, meine Poeme bin ich selbst. Nie habe ich ein einziges Komma geschrieben, welches kein Geständnis wäre. Ach, aber was sie wollen sind Details, Grausamkeiten, Tratsch… Dann geht’s los! Ich bin 78 Jahre alt, aber ohne Zeitalter. Zeitalter gibt es nur zwei: entweder lebt man oder ist man tot. In diesem letzten Fall heisst es viel zu viel Zeitalter, da es uns die Ewigkeit versprochen wurde.

In der Schärfe des Wintes bin ich geboren; Temperatur: 1 Grad: und noch dazu vorzeitig, was mir ein bisschen unter Komplex leidend machte, da ich dachte, ich wäre noch nicht fertig. Bis dem Tag, an welchen ich entdeckte, dass jemand so komplett wie Winston Churchill auch vorzeitig geboren wurde – das Gleiche nähmlich mit Sir Isaac Newton! Excusez du peu… Am Liebsten erwähne ich die Meinung der Anderen über mich. Man sagt, ich sei bescheiden. Ganz im Gegenteil, bin ich so stolz, dass ich glaube, ich hätte nie etwas geschrieben habe, was mir zu erwachsen scheint, weil Poesie Unzufriedenheit, ein Verlangen nach Selbst-Überwindung ist. Ein zufriedener Dichter befriedigt nicht. Man sagt, ich sei schüchtern. Nichts da! Ich bin nämlich stumm, introvertiert. Ich weiss nicht, warum man die Introvertierten einer Behandlung unterwerfen will. Nur damit sie nicht so ärgerlich wie die anderen werden können?

Genau weil ich das Öde und was zu lang ist hasse, ist dass ich das Synthese liebe. Ein weiteres Element der Poesie ist die Suche nach der Form (nicht der Gussform), die Dosierung der Worte. Vielleicht meine fünfjährige Erfahrung als Apotheker-Gehilfe hat  zu meiner Vorsicht dabei beigetragen. Bemerkbar ist, dass es auch bei Carlos Drummond de Andrade, Alberto de Oliveira, Érico Veríssimo – die sehr gut wissen (oder gewusst haben), was der Liebeskampf mit den Wörtern ist.

Im Interview mit Lau Siqueira
“Also, ich bin ein ewiger Lehrling. Weil der Dichter, der eine Formel entdeckt, Renommee erwirbt, der sich kein anderes Leben wünscht und immer auf der Mauer sitzend und mit Freunden unterhaltend, ohne gestochen zu sein, der ist nicht zu retten, weil ich denke, dass die Poesie ist nichts mehr als die Suche der Poesie, wie ich auch denke, dass Gott sich auf die Suche nach Gott beschränkt. Mein erstes Buch wurde veröffentlicht als ich 34 Jahre alt war. Es war “A Rua dos Cataventos”.

Da ist, was er Lau Siqueira in Porto Alegre Januar 1987 gesagt hat. Das Interview wurde in der Zeitung O Norte, aus João Pessoa (Bundesstaat Paraíba) am 25. Januar 1987 veröffentlicht. Das sind Worte, die für sich sprechen.

Der Dichter der einfachen Dinge und der widrigen Welt
mario-quintana2Der Dichter Mário Quintana hat dem tückischen Flitter der Berühmheit keine Aufmerksamkeit gegeben. Nie hat er jemandem verärgert, um einen Kommentar oder Lob für seine Bücher zu bekommen. Poesie hat er gemacht, weil er das unbesiegbare Verlangen danach fühlte, nach seinen eigenen Worten. Nie rannte er hinter den Jurys und blossen literarischen Preisen her, welche heut zu Tage die grossen Dichter in Xapetuba auszeichnen, laut und deutlich bekanntmachen, als ob es bundesweite oder internationale Preise wären. Und was kann man sagen zu den Ehrenwerten Erwähnungen, welche manche als Auszeichnung bezeichnen? Dabei kann uns ein anderer Dichter helfen, auch sehr würdig, José Paulo Paes,  in dem “Vorwort” zu seinem eigenen kurz Essays-Band “A Aventura Literária” (S.Paulo: Companhia. das Letras, 1990, 1. Ausgabe., S. 8): “Die Erklärung dazu ist ganz einfach: obwohl ich mich als ein in Fiktionsprosa verliebten Leser bezeichne, bin ich jedoch unfähig, sie zu schreiben. Meine wenigen Versuchen in dieser Richtung ergaben in sich leider gar nichts. Einesdavon wurde sogar mit einer Ehrenwerten Erwähnung in einem nationalen Wettbewerb ausgezeichnet wurde, was für mich entsprach der letzten Tropfe: es gibt nichts entehrendes als eine Ehrenwerte Erwähnung”.
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In dieser Form, hat Quintana niemals seine eigene Exzellenz ausgerufen, noch liess er sie von anderen bekanntmachen. Es ist angeboren dem wahren Dichter die Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und gegenüber seinen Lesern. Etwas, was zu ihrer Faszination und Kunst gehört, was uns dazu führt, auch als unsere anzunehmen die Erfahrungen, die ihre Gedichte  ausstrahlen, wie in:

Pequeno poema didático
O tempo é indivisível. Dize,
Qual o sentido do calendário?
Tombam as folhas e fica a árvore,
Contra o vento incerto e vário.

A vida é indivisível. Mesmo
A que se julga mais dispersa
E pertence a um eterno diálogo
A mais inconseqüente conversa.

Todos os poemas são um mesmo poema,
Todos os porres são o mesmo porre,
Não é de uma vez que se morre…
Todas as horas são horas extremas…

E todos os encontros são adeuses.
(vom Buch “Apontamentos de História Sobrenatural”, 1976, als Mário Quintana 70 Jahre alt wurde.)

Der selige Kritiker Fausto Cunha, unter denjenigen, die sich mit den Gedichten von Mário Quintana befassen hat, hinterliess registriert, dass sein Poesie “schwierig, weil intensiv anspielend und von einem sehr subtilen und unbeugsamen Humour geprägt” sei. ( “ A Luta Literária”, Rio de Janeiro, Verlag Lidador, 1964, S. 159).

Noch mehr kann man darüber wissen, durch das faszinierende Buch “Mário Quintana” von Márcio Vassalo (Verlag Moderna, 2006) für Kinder (und auch für Erwachsene geeignet). Eines Tages, als er festgestellt hat, dass die Ehefrau von Érico Veríssimo (unter deren Führung er beim Verlag Globo gearbeitet hatte) ständig Wollestrümpfe für ihn strickte, sagte er dazu: “Ich habe das Gefühl, Mafalda glaubt, ich sei ein Tausendfüssler”.

Auch als er schon sehr alt war, lief er gerne, alleine oder begleitet, die Hauptstrassen, Strassen, Gassen, Cafés und Querstrassen Porto Alegres entlang. Érico Veríssimo sagte dazu, dass “Mário überflog die Nächte der Stadt”.

Mário versuchte und genoss vor allem eine intensive Einsamkeit zu erleben, wie der Schriftsteller Armindo Trevisan berichtete: “Es war fast unmöglich, ein lineares Gespräch mit Mário zu führen. Er lebte in einer anderen Welt, in einer Welt voll intelektueller Spiralen. Seine Präsenz in dieser Welt war einfach gelegentlich…”

Bezeichnet als Dichter-Magier, besonders wegen vieler seiner unvergleichlichen Gedichte in Prosa. Seine Mini-Sprüche aus seinem “Caderno H” ( S.Paulo: Verlag Globo, 2005, 10. Ausgabe, S. 42) führt uns zum Nachdenken:

“Und was ist trauriger
Und das Traurige an diesenTeam-Dichtern ist, dass sie alle gleichzeitig sinken.”

Wir wissen, von den Werken des Dichters Mário Quintana, diese werden nie sinken. Ihm  wurde gerade einer der grössten Ehre zuteil, die man einem brasilianischen Schriftsteller widmen kann. Seine Produktion steht in einer Reihe mit unseren grossen Autoren, deren “Obras Completas” vom Verlag Nova Aguilar auf Bibel-Papier herausgegeben wurden.

Falls er uns wirklich hören und wissen könnte was hier los ist, ohne Zweifel wäre sein Kommentar die Wiederholung jener Verse des Sonettes  XXXV aus seinem ersten Buch:

“Quero é ficar com alguns poemas tortos
Que andei tentanto endireitar em vão…
Que lindo a eternidade, amigos mortos,
Para as torturas lentas da Expressão!”

Werke:
A Rua dos Cataventos (1940); Canções (1946); Sapato Florido (1948), Poesie und Prosa; O Aprendiz de Feiticeiro (1950); Espelho Mágico (1951),  1962 wurden seine Werke in einem einzigen Band unter dem Titel  Poesias zusammen gestellt.  Weitere Werke: Caderno H (1973); Quintanares (1976), nach welchem ihm Manuel Bandeira ein Gedicht gewidmet hat ; Apontamentos de História Sobrenatural (1976); A Vaca e o Hipogrifo (1977); Prosa e Verso (1978); Esconderijos do Tempo (1980); Nova Antologia Poética (1982), Batalhão das Letras (1984); Baú de Espantos (1986); Preparativos de Viagem (1987), ausser zahlreichen Anthologien.

Für Kinder:
Pé de Pilão (1975); Lili inventa o mundo (1983); Sapo amarelo (1984); Nariz de Vidro (1984) e  Sapato Furado (1994, aus dem Nachlass).

Mário Quintana übersetzte Proust, Conrad, Rosamond Lehman, Voltaire, Virginia Woolf, Papini, Maupassant, Balzac und viele andere  wichtige Autoren.

Und zum Schluss:
DA OBSERVAÇÃO
Não te irrites, por mais que te fizerem…
Estuda, a frio, o coração alheio.
Farás, assim, do mal que eles te querem,
Teu mais amável e sutil recreio…

(*) Aricy Curvello ist Dichter, Essayst und Übersetzer.
Unter seiner behümtesten Büchern sind “Mais que os Nomes do Nada” (São Paulo, Verlag Editora do Escritor, 1996, Poesie); “Uilcon Pereira: no coração dos boatos” (Porto Alegre: Verlag Editora AGE / S.Paulo: Verlag Editora Giordano, 2000, Essays); das lange Gedicht (über Amazonien) “O Acampamento”, schon in Spanisch, Italienisch und Französisch übersetzt. In Französisch als Buch von Les Presses Littéraires veröffentlicht, in der Übersetzung von Jean-Paul Mestas.

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